Die Toechter der Familie Faraday
hinausgelaufen, dass die Welten der Menschen und der Vögel gar nicht so weit auseinanderlagen, wie allgemein angenommen wurde.
All das wusste Juliet ja. Sie wusste, dass Kinder nicht der Königsweg zu einem glücklichen Leben waren. Sie hatte das immer realistisch betrachtet. Schließlich hatte sie Maggie von Geburt an erlebt. Sie wusste, wie es war, wenn man sich um einen Säugling kümmern müsste – die schlaflosen Nächte, das Chaos, die ständige Arbeit. Sie war darauf vorbereitet gewesen, denn sie hatte auch die schönen Momente erlebt, das erste Lächeln, die ersten Schritte – das Glück, wenn ein Baby im Haus war, ein Kleinkind und später ein Kind. Trotz des Drecks und des Durcheinanders, das ein so kleiner Mensch wie Maggie erzeugen konnte, hatte es auch Momente schierer Wonne gegeben. Juliet hatte niemals den Anblick vergessen, wenn Maggie der ersten Person, die nach dem Schlafen an ihre Wiege trat, die Ärmchen entgegenstreckte. Oder wie sie gelacht hatte, wenn sie gekitzelt wurde. Die lustigen Dinge, die sie gesagt hatte, auf ihre so ernste Art, die ihr von Anfang an zu eigen war. Juliet hatte das alles bei Maggie erlebt, geliebt und in ihrer Unschuld und Unbekümmertheit gedacht, dass all das auch vor ihr und Myles lag, mit ihren eigenen Kindern.
Maggie hatte Juliet auch auf ein Leben mit Teenagern vorbereitet. Juliet war auf das Geschnatter ihrer eigenen Teenager vorbereitet gewesen, auf gute und schlechte Zeiten: schlaflose, sorgenvolle Nächte, wenn sie noch nicht zu Hause waren, verdrießliche Mienen, Launen, Tage voller Dramen. Auf Wutausbrüche seitens ihrer Tochter. Einsilbige Antworten von ihrem Sohn. Sie malte sich all das aus, immer wieder, seit Jahren. Sie lebte ein imaginäres Leben mit Kindern, parallel zu der Realität ihres wahren Lebens. Auch jetzt, in Donegal. Ihr perfektes Leben. Diese Vorstellung linderte ihre dunkelsten Stunden.
Sie schloss die Augen und betrat ihre andere Welt. Manches darin unterschied sich nicht von der Wirklichkeit. Juliet war auch dort im Ferienhaus ihrer Familie und bereitete sich auf die Ankunft der anderen vor. Auf dem Herd köchelte das Essen, der Kühlschrank war voll, die Weinflaschen warteten. Nur die Rollenbesetzung wechselte. Manchmal stellte Juliet sich vor, dass ihre Zwillinge kamen. Emily und Romy. Eine lebte als Lehrerin in London, die andere arbeitete als Laborantin in einem Krankenhaus in Edinburgh. Gescheite, glückliche Frauen. Natürlich stritten sie sich auch hin und wieder, und dann kamen beide zu ihr: »Mum, Emily hat gesagt …«, und: »Mum, Romy hat gesagt …«
Manchmal stellte sie sich auch vor, ihre Jungs kämen zu Besuch. Alle drei. Rauflustig, ungestüm und sportlich. Adam, Lewis und Henry. Alle mit dunklem Haar. Lewis war der Ruhige, der Intellektuelle, er studierte noch. Manchmal war sie besorgt, dass er zu viel über seinen Büchern hockte, aber er versicherte ihr, er bekäme genügend frische Luft und Bewegung. »Mach keinen Stress, Mum.« Adam war ein vielversprechendes Krickettalent mit Aussicht auf eine professionelle Laufbahn. Er hatte in der vergangenen Saison dreimal die Hundert erzielt. Harry spielte Fußball, und auch das erfolgversprechend. Juliet stand oft mit den anderen Müttern zusammen und lachte. »Ich weiß nicht, woher meine Jungs das haben. Ich kann keinen Ball werfen, und Myles kommt nur dann in die Nähe eines Spielfelds, wenn er im Auto daran vorbeifährt.«
Nur ein einziges Kind. Eine Tochter oder ein Sohn. Das hätte gereicht. Sie hätte auf sie oder ihn gewartet, darauf geachtet, dass das Zimmer schön hergerichtet war, das Lieblingsessen auf dem Herd stand, sie hätte sich ihre oder seine Geschichten angehört, Ratschläge gegeben – oder auch nicht. Was immer er oder sie wollte.
Myles kam in ihrer Fantasiewelt nicht vor. Das hätte zu viel Unfrieden gestiftet. Dann wäre die Wirklichkeit über sie hereingebrochen, ihre Wut, ihre Enttäuschung. Warum hatte sie auf ihn und nicht auf ihren Körper gehört? Sie hatte seit der Hochzeit von einem Baby gesprochen. »Lass uns doch erst das Geschäft aufbauen«, hatte er gesagt. Danach waren sie zu beschäftigt gewesen. »Wir haben doch Zeit, Juliet.«
Sie hatte nachgegeben. Anfangs. Sie hatte doch nie im Leben damit gerechnet, dass es Probleme geben würde. Als sie fünfunddreißig wurde, hatte sie entschieden, nun wäre es endgültig an der Zeit. Sie hatte heimlich die Pille abgesetzt, es Myles erst ein halbes Jahr später gesagt. Der Gedanke an die
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