Die Toechter der Familie Faraday
ankam. Sie wusste, dass er ungefähr eine Stunde vom Flughafen nach Hause brauchen würde. Drei Minuten, um den Taxifahrer zu bezahlen. Weniger als zwei Minuten, um ins Haus zu gehen, seinen Koffer abzustellen, seine Runde zu machen. Zehn Sekunden nach Betreten der Küche würde er den Umschlag neben der Obstschale entdecken. Sie hatte ihn erst an eine Vase gelehnt, dann ans Radio, dann auf den Tisch gelegt, bevor sie zu dem Entschluss gekommen war, dass er an der Obstschale am ehesten auffallen würde.
Was würde er denken? Dass es ein Willkommensgruß war? Er würde den Umschlag öffnen und den Brief herausholen.
Lieber Myles , würde er lesen:
Ich weiß, es ist feige, es Dir auf diesem Wege zu sagen, und wir werden darüber auch noch von Angesicht zu Angesicht sprechen, aber ich musste Dir erst schreiben, um einmal genau in Worte zu fassen, wie ich mich fühle, damit Du mich verstehst. Ich muss Dich und unsere Ehe aufgeben. Ich bin jeden einzelnen Tag unglücklich, und ich sehe keinen Sinn mehr darin, dass wir noch länger zusammenbleiben. Ich gebe mir die Schuld, ich gebe Dir die Schuld, ich gebe der ganzen Situation die Schuld, aber ich sehe keinen Ausweg. Ich habe noch nicht über diesen Schritt hinausgedacht. Mir ist bewusst, dass es kompliziert wird, mit dem Geschäft und den Cafés und allem, aber ich hoffe, dass wir das zivilisiert angehen können und uns möglichst wenig Schmerz zufügen werden.
Ich komme Ende des Monats aus Donegal zurück. Bis dahin.
Es tut mir sehr leid.
Juliet
Tat es ihr leid? Ja. Es tat ihr leid, und es tat weh, sie war traurig und hatte diese Gefühle so satt. Sie hatte es satt, ständig daran erinnert zu werden, dass ihr Leben mit Myles nicht das Leben war, das sie gewollt hatte. Sie hatte sich während der Jahre immer wieder ein neues Ultimatum gestellt. Wenn ich vierzig werde, sehe ich das anders. Mit fünfundvierzig ist alles überstanden. Jetzt war sie fünfzig, und ihr ging es eher noch schlechter.
Sie wusste jetzt, dass sie sich etwas vorgemacht hatte. Es wurde anders, aber nicht besser. Sie war nicht mehr nur traurig, sie war wütend, wütender, als sie sich je hätte vorstellen können. Nicht nur auf sich, sondern auch auf Myles.
Die Entscheidung, ihn zu verlassen, war langsam in ihr gereift. Zuerst hatte sie naiverweise geglaubt, nur gemeinsam könnten sie damit fertig werden. Es betraf sie beide, also würden sie gemeinsam trauern. Dann war ihr allmählich gedämmert, dass er darüber hinweggekommen war. Ihm ging es gut. Er hatte sich damit abgefunden. Er war der Meinung, dass sie ein gutes Leben hatten. Er sah nicht, welche Rolle er bei alldem gespielt hatte. Das Einzige, was ihm eingefallen war, waren Plattitüden.
»Man kann nicht alles haben, Juliet. Wenn wir Kinder gehabt hätten, wer weiß, vielleicht hätten wir mit ihnen noch mehr Leid erfahren. Wir haben doch ein gutes Leben. Uns geht es besser als den meisten Menschen – wir können reisen, schöne Ferien machen, wir lieben unsere Arbeit. Wir haben ein schönes, erfülltes Leben. Du kannst doch nicht dein ganzes Leben lang ›Was wäre, wenn‹ denken. Das macht dich auf Dauer verrückt.«
Sie war fast verrückt geworden. Er verstand sie nicht. Niemand verstand sie, nicht einmal ihre Schwestern. Sie hatte nur ein Mal kurz mit Miranda darüber gesprochen, aber dann hatte sie die Beherrschung verloren. Sie hatte sich über sich selbst geärgert, weil sie geglaubt hatte, Miranda könnte sie verstehen oder gar Mitgefühl empfinden. Mit Eliza darüber zu sprechen, hatte Juliet erst gar nicht versucht, denn sie kannte die Antwort. »Millionen Frauen auf dieser Welt haben keine Kinder, Juliet. Ich habe auch keine, und wirke ich etwa unglücklich?«
»Nein, aber du bist ja auch aus Eis«, hätte Juliet geantwortet. »Du brauchst weder einen Mann in deinem Leben noch Kinder. Du bist mit deinem Beruf ja vollkommen glücklich. Ich aber nicht. Ich habe immer mehr gewollt. Und ich will immer noch mehr.«
Clementine hätte bis zu einem gewissen Grad mehr Verständnis gehabt. Aber sie hätte ihr vermutlich erklärt, dass menschliche Wesen so wie alle anderen Kreaturen waren. Sie sah es ständig bei ihren Forschungsprojekten. Einige hatten Küken, andere nicht. Aber niemand lebte glücklich bis an sein Ende, das gab es nicht einmal in der Vogelwelt. Clementine hätte Fälle von armen Küken zitiert, die ausgestoßen, getötet oder gequält wurden, weil sie anders waren. Es wäre wie üblich auf das Fazit
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