Die Toechter der Familie Faraday
Sachen gegeben. Sie hatte eine halbe Stunde an einer Bushaltestelle außerhalb der Stadt gewartet, sich immer wieder im Schatten der drei Bäume verborgen, voller Angst, dass Leo und Clementine vorbeifahren könnten. Leo hatte gesagt, dass er am nächsten Morgen zurückkommen würde. Bis dahin wollte sie viele Meilen fort sein.
Schließlich hatte sie trampen müssen. Eine ältere Frau hatte sie mitgenommen. Sie war strikt gegen das Trampen, hatte sie Sadie erklärt und ihr während der ganzen Fahrt einen Vortrag gehalten. Sadie hatte das gerne in Kauf genommen, beschämt den Kopf hängen lassen und die Frau innerlich angefleht, schneller zu fahren.
Zwei Stunden später war sie in Brisbane. Zum ersten Mal. Sie hatte Angst, kaum Geld und war allein. Sie hatte sich verboten, über das Vergangene oder das, was vor ihr lag, nachzugrübeln. Sie hatte sich eingeredet, sie wäre im Urlaub, erlebte ein Abenteuer. Sie sprach mit sich selbst, wie sie zuvor mit Maggie gesprochen hatte. Es war doch aufregend, es machte Spaß. Sie kämpfte gegen Gedanken an ihre Familie an. Sie drangen trotzdem zu ihr durch. Miranda schnauzte sie an: »Was, zur Hölle, hast du dir dabei gedacht? Bist du jetzt noch irrer als sonst?« Juliet, mütterlich, besorgt, belehrend: »Hast du irgendeine Vorstellung davon, was wir uns für Sorgen gemacht haben? Wie konntest du so gedankenlos sein?« Eliza hätte sie abgeurteilt. Was Clementine und Leo gesagt hätten, brauchte sie sich ja nicht auszumalen. Leos Wut war zu Fassungslosigkeit geworden, als er gehört hatte, dass sie die Tagebücher gelesen, dass sie seine Scharade durchschaut hatte.
Die erste Nacht hatte sie in einem Hostel verbracht, dem billigsten, das sie finden konnte, inmitten fröhlicher, lärmender Mädchen aus Deutschland, Irland, der Schweiz und den USA, auf dem letzten Stopp einer einjährigen Abenteuerreise. Sie hatte im Bett gelegen und zugehört, wie sie sich Tipps gaben, lustige Geschichten erzählten und Informationen über Sehenswertes austauschten. Beim Frühstück hatten sich zwei Mädchen in der Gemeinschaftsküche zu ihr gesellt. Sadie hatte noch etwas Obst übrig und es ihnen angeboten, dafür Käse mit Crackern erhalten.
Sie hatten sie mit Fragen bombardiert. »Du bist aus Australien, oder? Wie heißt du?«
»Sally«, hatte sie gesagt, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, und »Sally Donovan« mit Nachdruck hinzugefügt.
Es war so einfach. Sie erzählte den beiden Mädchen, dass sie gerade ihr Studium beendet hatte und sich ein Jahr Auszeit gönnen würde.
Sie erzählten ihr, wo sie überall gewesen waren, im äußersten Norden von Queensland, wo sie gegen Kost und Logis Obst gepflückt, geputzt oder Waren verpackt hatten. Sie sagten ihr, welches Hostel man in Darwin besser mied, weil der Besitzer ein schmieriger Widerling war. Sie erzählten ihr von einem Café in Cairns, das als inoffizielle Jobbörse für Rucksacktouristen fungierte. Wenn du nicht zimperlich bist, kannst du überall arbeiten, sagten sie. Besonders in Brisbane.
Sadie war nicht zimperlich. Ihr war egal, was sie tat. Sie wollte nur niemals wieder nach Hobart zurück. Niemals.
Im Laufe der folgenden Wochen spülte sie Geschirr und putzte Badezimmer, die Küchen der Pubs und Restaurants von Brisbane. Sie arbeitete tagsüber hart, damit sie nachts schlafen konnte. Die Belegung in ihrem Schlafsaal wechselte. Sadie ergänzte ihre Geschichte um weitere Details. Es war so leicht, wenn man sich nicht gegen jemanden wie Miranda durchsetzen musste, der einem mit einer spitzen Bemerkung den Boden unter den Füßen wegziehen konnte.
Sie färbte sich mit einer billigen Mixtur aus der Drogerie das Haar schwarz und versaute das Gemeinschaftsbad im Hostel so sehr, dass sie zum Putzen zwei Stunden und eine ganze Flasche Bleiche benötigte. Sie hatte erwartet, dass die anderen Mädchen sie schelten würden, so wie Juliet und Eliza. Doch eine Italienerin namens Maria hatte nur gelacht. Ein anderes Mädchen hatte angeboten zu helfen, als Sadie auf den Knien lag, um die schwarzen Farbspritzer wegzuwischen.
Tagsüber gelang es ihr, die Gedanken an ihre Familie zu verdrängen. Außer an Maggie. Es bestürzte sie, wie sehr sie ihre Nichte vermisste. Sie hatte sich nicht von ihr verabschieden können. Was, wenn Maggie nun glaubte, Sadie hätte sie vergessen? Was hatten sie Maggie erzählt? Das beschäftigte sie. Aber was konnte sie tun? Sie konnte kaum zu Hause anrufen, sich Maggie geben lassen und versuchen, einer
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