Die Toechter der Familie Faraday
Dublin hatte er vorgeschlagen, ein wenig über Land zu fahren. Sie waren in ein Dorf gekommen, der Straße den Berg hinauf gefolgt, Sadie kannte den Weg aus dem Gedächtnis. Das Haus war nicht zu übersehen, es war das größte weit und breit. Im Vorgarten stand ein dezentes Schild: Zu vermieten. Darunter die Telefonnummer des Verwalters.
Sie hatte angehalten, den Motor laufen lassen. »Was meinst du? Wollen wir das mal den Sommer über mieten?«
Larry hatte geschaudert. »Nein, herzlichen Dank. Hier ist mir ein bisschen zu viel Natur.« Er war durch und durch Städter.
Sie war in Versuchung gewesen, das ließ sich nicht leugnen. Dort eine Weile zu wohnen, ganz allein, in ihrem Haus, ohne dass sie etwas ahnten … Oder in der Nähe zu bleiben, wenn sie alle dort waren. In denselben Geschäften einzukaufen, in denselben Pubs etwas zu trinken. Würden die anderen sie erkennen? Würde sie die anderen erkennen? Sie hatte sich nicht allzu sehr verändert. In jüngster Zeit waren einige graue Haare aufgetaucht, und sie kämpfte immer noch mit ihrem Gewicht, aber füllig war sie schon lange nicht mehr. Sie würden sie erkennen, da war sie sicher, und umgekehrt ebenso.
Sie mussten jetzt da sein. Sie hätte einfach aufstehen und sich ins Auto setzen, fünf Stunden fahren und ins Haus marschieren können. »Hallo, alle miteinander. Da bin ich wieder.«
Eher würde die Hölle zufrieren.
Sie stand dennoch auf, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie durfte jetzt nicht überreagieren. Dass der Mann Tasmanien erwähnt hatte, war bestimmt reiner Zufall.
Sie ging in die Küche und machte sich eine heiße Milch, obwohl die Nacht warm war. Wäre doch Larry bei ihr, dann bräuchte sie sich nur an ihn zu schmiegen, und schon wäre alles gut. Einmal hatte sie ihm das auch gesagt. Dass sie sich in seiner Gegenwart sicher fühlte, friedvoll. Vollkommen.
»Wir sind ja auch Seelenverwandte«, hatte er schlicht erwidert. »Wir sind füreinander bestimmt. Die Götter haben es gut mit uns gemeint. Wir beide sind vom Glück gesegnet.«
Dabei war Sadie damals vom Glück verlassen und wahrlich nicht gesegnet gewesen. Die Monate, bevor sie Larry begegnet war, waren die einsamsten und schrecklichsten ihres Lebens. Auch heute, im Rückblick, war sie noch manches Mal entsetzt. Es war, als schaute sie auf das Leben eines anderen Menschen. Eines zutiefst unglücklichen, verzweifelten Menschen.
Warum sie weggelaufen war, wusste sie genau. Aber wenn sie heute jemand fragen würde, warum sie Maggie mitgenommen hatte, könnte sie es noch immer nicht sagen. Aus Wut? Verzweiflung? War es der Schock? Um ihrer Familie wehzutun, damit sie ebenso litt? Oder aus einem ganz anderen Grund?
So viel war damals falsch gelaufen. Sie hatte sich so verloren gefühlt, so fehl am Platz. Ungeliebt. Eine Fremde inmitten der eigenen Familie. Wenn sie sich nicht das Zimmer mit Eliza geteilt hätte, hätte sie sich jede Nacht in den Schlaf geweint. Das einzig Gute in ihrem damaligen Leben war Maggie. Sie war die einzige Person in ihrer Familie, der sie sich verbunden fühlte. Maggie hatte nicht auf ihr herumgehackt, über sie geurteilt, sie heruntergeputzt oder mit ihr konkurriert. Sie war einfach gerne in ihrer Nähe. Manchmal hatten ihnen, wenn sie gemeinsam unterwegs waren, Passanten zugelächelt. »Wie alt ist Ihre Tochter denn? Ihre Tochter hat aber ein reizendes Lächeln.« Natürlich bedeutete das nichts, trotzdem hatte sie es gerne gehört. Es vermittelte ihr das Gefühl, dass sie und Maggie zusammengehörten. Es vermittelte ihr ein Gefühl von Freude in einer Zeit der Trostlosigkeit. Sie hatte sehr wohl gewusst, dass sie ihre Schwestern verrückt machte. Sie hatte Leos Enttäuschung gespürt. Sie konnte mit den anderen nicht mithalten, nicht einmal ansatzweise erreichen, was sie erreicht hatten. Aber warum? Was war bei ihr schiefgegangen?
Als sie die Tagebücher entdeckt hatte, hatte sie endlich die Antwort gefunden. Es erklärte so vieles. Niemals würde sie das Gefühl vergessen. Je mehr sie gelesen hatte, umso verstörter wurde sie. Wie konnte Leo mit so viel Hingabe von Tessa sprechen? Er musste das doch auch alles gelesen haben, und dennoch hatte er sich entschieden, all ihre Traditionen fortzuführen, das Bild der perfekten Mutter, der glücklichen Familie aufrechtzuerhalten.
Am meisten hatte sie ein Eintrag verletzt, den ihre Mutter zwei Tage nach Sadies zehntem Geburtstag, wenige Monate vor Tessas Tod, geschrieben hatte. Sadie erinnerte sich ganz
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