Die Toechter der Familie Faraday
gleiche Boshaftigkeit, der gleiche bissige Humor. Aber bei Miranda verbarg sich dahinter Gutherzigkeit. Maggie hatte im Laufe ihres Lebens oft genug davon profitieren dürfen. Bei Tessa konnte sie keinen Hinweis darauf entdecken.
»Maggie? Lebst du noch?« Miranda erschien in der Tür. »Du bist so still, das macht mich nervös. Was liest du denn bloß? Wir haben dich seit Stunden nicht mehr gesehen.«
»Anna Karenina« , log Maggie. Sie hatte gerade noch Zeit gehabt, die Tagebücher unter die Matratze zu schieben. Sie hatte mit Bedacht das dickste Buch gewählt und sich den Tolstoi aus dem Bücherregal genommen.
»Kann ich dir eine kleine nachmittägliche Aufmunterung anbieten? Mich juckt’s in den Fingern, eine Weinflasche zu öffnen, und niemand will mitmachen.«
»Jetzt noch nicht, danke.«
Der nächste Besucher war Gabriel. Er hatte sich in seinem Zimmer eine Kapuzenjacke geholt. Es war kühl geworden, obwohl die Sonne durch die Fenster schien. Maggie hatte sich einen farbigen Quilt um die Füße gewickelt, ihren Sessel in die Sonne geschoben und wärmte sich dort wie eine zufrieden schlummernde Katze.
»Empfängst du Besuch?«, fragte er. »So ganz allein hier oben?«
»Wie die wahnsinnige Mrs. Rochester auf dem Dachboden?«
»Das hätte ich nicht zu sagen gewagt.«
»Wie läuft es da unten?«
»Miranda hat recht. Ich werde mich vielleicht doch noch beim Sundance Film Festival bewerben. Nur der Titel steht noch nicht fest.«
»Das Tollhaus?«
»Kurz und treffend. Ich dachte aber eher an Leo und seine Töchter . Oder Spannungen, Lügen und Video .«
»Wer lügt denn?«
»Nun, allen voran du, ich und Leo. Aber wir sind nicht die Einzigen.«
»Meine Mutter und meine Tanten auch?«
»In unterschiedlichem Maße, ja.«
»Worüber?«
»Das kommt darauf an, wonach man sie fragt.«
»Und wieso bist du davon überzeugt, dass sie lügen?«
»Zunächst einmal ist da ihre Körpersprache. Außerdem ist das alles einfach zu schön, um wahr zu sein.« Er ging zum Fenster und stellte sich neben Maggie. »Es tut mir leid, wenn ich zynisch klinge, Maggie, aber so, wie sie das schildern, muss ihre Kindheit eine Mischung aus Meine Lieder – Meine Träume und Der König und ich gewesen sein. Immer nur Heiterkeit, niemals ein böses Wort. Das Leben mit ihrer Mutter muss ein einziger Spaß gewesen sein. War es denn wirklich so?«
Noch vor einem Tag hätte Maggie dies bestätigt. Clementine und ihre Tanten verteidigt und gesagt, dass ihre Schilderungen natürlich der Wahrheit entsprachen. Tessa war die wunderbarste, warmherzigste, lustigste, liebevollste Mutter der Welt gewesen. Aber konnte sie das jetzt noch glauben? Nachdem sie gelesen hatte, wie genervt Tessa sein konnte, wie gelangweilt sie bisweilen war, wie abfällig sie sich nicht nur über ihre Mutterschaft, sondern auch über ihren Mann äußerte. Das mussten sie doch alle irgendwie gespürt haben. Hatten sie denn alle die schlechten Zeiten verdrängt? Oder als Kinder einfach nicht bemerkt, was um sie herum geschah? Maggie war sehr verwirrt.
»Vielleicht war es ja wirklich so«, sagte sie, immer noch darum bemüht, für ihre Familie einzustehen. »Nur, weil sie von glücklichen Erinnerungen schwärmen, heißt das nicht, dass sie keine haben. Oder hat deine Kamera einen integrierten Lügendetektor?«
»Den brauche ich nicht. Sie lügen alle. Glaub mir, ich habe in Washington viel gelernt. Als Kameramann ist man wie ein Kellner. Ich habe die Politiker zwischen den Aufnahmen reden hören, das Flüstern ihrer Berater gehört und dann gesehen, wie sie sich vor der Kamera verwandelt haben. Ich habe durch meine Linse alles gesehen.«
»Ich glaube gerne, dass Politiker lügen. Aber warum sollten meine Mutter und meine Tanten das tun?«
»Vielleicht aus demselben Grund, aus dem sie alle so kurzfristig von weit her geeilt sind. Deinem Großvater zuliebe.«
Maggie zögerte. War es so? Sprachen sie deshalb so positiv über Tessa? Um Leos willen? Selbst wenn das der Wahrheit entsprechen sollte, gefiel es Maggie nicht, das von Gabriel gesagt zu bekommen. »Er ist ein alter Mann. Sie lieben ihn. Und ich dachte, du magst ihn auch.«
»Das tue ich ja. Ich mag ihn sogar sehr und genieße seine Gesellschaft über die Maßen. Aber ich bin froh, dass ich nicht unter seiner Kuratel stehe.«
»Jetzt gehst du aber ein wenig zu weit.«
Gabriel blieb ruhig. »Maggie, das musst du doch erkennen.«
»Was erkennen?«
»All die Spannungen haben nur mit Leo und seinen
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