Die Toechter der Familie Faraday
Juliet drei Jahre alt und Miranda ein Säugling.
Maggie las zehn weitere Seiten, dann ließ sie das Buch sinken. Es war ein seltsames Gefühl. Eine Etage unter ihr filmte Gabriel die anekdotischen Erinnerungen an eine geliebte Ehefrau und Mutter. Hier oben las Maggie Tessas eigene Worte. Ein und dieselbe Person, aus zwei völlig verschiedenen Blickwinkeln. Aber welcher war der richtige?
Maggie wollte sich mit ihrer Meinung noch nicht festlegen, immerhin musste sie noch vier Tagebücher lesen, aber sie konnte sich des Eindrucks, den sie sich bisher von ihrer Großmutter gebildet hatte, nicht erwehren.
Tessa war abscheulich.
Gemein. Verzogen. Gehässig. Grausam. Manipulativ. Hochnäsig. Eitel. Ungeduldig.
Während des Lesens hatte sich Maggie immer wieder um eine ausgewogene Betrachtungsweise bemüht, denn sie wollte ihren Empfindungen nicht trauen. Tessa musste ihr selbstsüchtig vorkommen, schließlich waren es ihre Tagebücher. Natürlich ging es um sie. Aber je mehr sie las, umso schwerer fiel es ihr, sich eine andere Meinung zu bilden. Tessa war ihren Freunden gegenüber grausam, bezeichnete sie als farblos und langweilig. Sie war weit mehr an ihrem eigenen Aussehen interessiert. Ganze Seiten waren Beschreibungen ihrer Kleider gewidmet, und Komplimenten, die sie bekommen hatte.
Maggie war froh, dass Leo ihr von Tessa und seinem Bruder erzählt hatte. Sonst hätte sie das vollkommen schockiert. Doch selbst mit diesem Wissen tat es ihr weh zu lesen, was Tessa von Leo gehalten hatte, wie abfällig sie sich über ihn äußerte und wie sie ihn, sehr zu seinem Nachteil, mit Bill verglich: »Unser Schoßhündchen ist uns heute wieder einmal den ganzen Tag lang gefolgt.«
Es kam noch schlimmer. Auf den folgenden Seiten hatte Maggie erfahren, dass Tessa nur aus dem einen Grund etwas mit Leo angefangen hatte, nämlich um Bill eifersüchtig zu machen, und dass sie eine Zeit lang heimlich mit beiden zusammen gewesen war. Selbst als sie sich endgültig entschieden hatte, bei Leo zu bleiben, hatte sie sich noch abschätzig über ihn geäußert. Von Leo verwöhnt zu werden, behagte ihr sehr, seine Liebe zu erwidern, interessierte sie nicht.
Maggie hatte gehofft, dass sich ihre Großmutter ändern würde, als sie Mutter wurde. Dass sie weicher würde, mehr wie die Frau, die Leo vergötterte. Anfangs war es auch so. Es gab einen berührenden Absatz über Tessas Gefühle während ihrer ersten Schwangerschaft. Detaillierte Beschreibungen von Juliet und, kaum zwei Jahre später, von Miranda als Babys.
Aber das währte nicht lange. Zwei Stunden Lektüre und drei Lebensjahre weiter wurde Tessas Tonfall wieder schnippisch, ihr Klagen laut. Sie fühlte sich mit ihren kleinen Kindern eingesperrt. Sie war die Hausarbeit leid, obwohl – soweit Maggie das aus dem Gelesenen schließen konnte – Leo ohnehin das meiste übernommen hatte. Er war mittags von seiner Arbeit in einer Forstwirtschaft nach Hause gekommen und hatte das Essen und den Abwasch gemacht. Nur, dass Tessa es so nicht formuliert hatte:
Leo hat doch wirklich die Frechheit besessen, mich zu fragen, ob ich diese Woche das Abendessen machen könnte. Für ihn ist das einfach, er kann ja nach Belieben kommen und gehen – er hockt ja nicht ständig mit den Babys im Haus.
Miranda weint die ganze Zeit. Meine Nachbarin hat mir geraten, einen Schluck Whiskey in die Milch zu mischen. Das war die reinste Wohltat, für mich wie auch für sie!
Ich bin schon wieder schwanger! Mit Eliza, dachte Maggie. Und die anderen Frauen sind auch noch alle neidisch.
Während die Familie wuchs, änderte sich eines nicht. Leos Bruder Bill war ständiger Gast im Haus.
Bill hat heute sein Glück bei mir versucht.
Maggie hielt den Atem an.
Ich habe ihm gesagt, dass er die Pfoten wegnehmen soll. Wenn er meint, dass er einfach so anmarschieren und von mir haben kann, was er will, dann täuscht er sich, selbst wenn er im Bett viel besser als Leo ist. Das Lustige ist, ich glaube, Bill ist wirklich eifersüchtig auf Leo. Da kann man nur sagen, wer zuletzt lacht, lacht am besten! Ich wünschte, ich könnte aus den beiden einen Faraday machen. Das wäre der perfekte Mann.
Wenn Leo diese Zeilen lesen würde, würde es ihn umbringen.
Tessa musste doch auch gewinnende Eigenschaften gehabt haben. Maggie bemühte sich sehr, sie zu finden. Vielleicht ihr Sinn für Humor? Denn wider Willen musste Maggie an manchen Stellen laut lachen. Tessas Sprachgewandtheit erinnerte sie an jemanden. Miranda. Die
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