Die Toechter der Familie Faraday
nicht mehr? Du hast dir in New York doch erhebliche Gedanken wegen deiner Familie gemacht. Ich habe dir versprochen, dass ich mir etwas einfallen lassen würde, um unsere Verlobung offiziell wieder zu lösen.«
»Wirklich?« Das schien eine Ewigkeit her.
»Du hast im Moment genug im Kopf, da wollte ich dich nicht auch noch damit belasten. Ich habe eine Freundin gebeten, in den nächsten Tagen in Donegal anzurufen und mir einen Grund zu geben, dringend zurückzureisen. Bis dahin sind wir mit dem Filmen fertig. Und wenn ich erst einmal weg bin, kannst du deiner Familie sagen, dass du Zweifel hast und mit dem Gedanken spielst, die Hochzeit abzusagen. Das wird viel einfacher sein, wenn ich nicht dabei bin.«
Hoffentlich sah sie nicht allzu enttäuscht aus. Sie wollte es nicht beenden. Sie tat gerne so, als wäre sie mit ihm verlobt, und wünschte, sie würden nicht nur so tun. Sein Vorschlag holte sie unsanft wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Für ihn war es nur ein Job.
Sie brachte ein Lächeln zustande. »Klingt gut, danke. Das macht es sicher leichter.«
Nachdem sie das Bier getrunken hatten, gingen sie in die Pension zurück. Sie wünschten einander an der Rezeption eine gute Nacht. An einem anderen Abend wäre es vielleicht anders gekommen. Dann wären sie vielleicht noch in einen anderen Pub gegangen, hätten geredet, irgendwo Livemusik gehört, wären vielleicht noch in einen Club gegangen. Sie wären womöglich zurück in die Pension gegangen und hätten dabei geflüstert und gewispert, wären in sein oder ihr Zimmer gegangen, um noch ein wenig mehr zu reden. Zu lachen. Oder noch etwas anderes zu tun.
Aber solch ein Abend war es nicht. Ihre Verabschiedung hatte beinahe schon etwas Geschäftsmäßiges. Er wünschte ihr Glück für den nächsten Morgen. Sie versprach, sobald sie etwas hörte, Bescheid zu sagen.
Nun lag sie schon über eine Stunde hellwach im Bett, lauschte dem Straßenverkehr, sah, wie das Mondlicht auf der Tapete schimmerte, hörte die leisen Unterhaltungen auf der Straße, Gäste, die aus Pubs oder von Partys kamen.
Sie wäre so gerne zu Gabriel gegangen und hätte ihm gesagt, wie sie empfand. Dass es ihr schwerfiel, nur so zu tun, als wäre sie seine Freundin – seine Verlobte -, da ihre Gefühle so stark waren. Sie hatte seit Beginn dieser Scharade so empfunden, und das Gefühl wurde mit jedem Tag stärker. Auch als sie ihm heute Abend im Pub gegenübergesessen, ihm zugehört, in sein Gesicht geschaut, sich alles eingeprägt hatte – die Farbe seiner Augen, die Lachfältchen in seinen Wangen, seine Gestik beim Sprechen. Sie wollte seine Hände berühren, ihn küssen, ihm nahe sein …
Sie wälzte sich im Bett herum. Das ging nicht. Das war keine normale Situation. Ihre Familie drängte sich dazwischen, in ihren Gedanken und in Wirklichkeit.
Sie hatte New York und den Abstand gebraucht, von ihnen allen und von der Rolle, die sie für sie spielte. Die Rolle der klugen, smarten, loyalen Maggie – Tochter, Nichte, Enkelin. Doch sie wollte etwas anderes sein. Einfach nur Maggie. Eine eigenständige Person. War das überhaupt möglich? Oder war die Familie immer bei einem, folgte einem und umringte einen?
Ihr Großvater war eindeutig ein Familienmensch. Leo war felsenfest davon überzeugt, dass alles in Ordnung kommen würde, dass man nur hier ein wenig schrauben, dort ein wenig richten musste wie bei seinen Erfindungen, und schon fügte sich alles wie von selbst. Er würde die perfekte, glückliche Familie schaffen, mit schönen Erinnerungen an Tessa und Sadies glücklicher Heimkehr in den Schoß der Familie.
Doch er irrte sich. Die perfekte, glückliche Familie gab es nicht. Maggie wusste das deshalb so genau, weil sie früher auch einmal daran geglaubt hatte, zu einer solchen zu gehören. Doch die Wahrheit sah anders aus. Ihr Familienleben beruhte auf Lug und Trug, Schicht um Schicht, und diese Lügen banden sie alle aneinander. Maggie hatte immer geglaubt, sie wären einander in Liebe verbunden, doch es war weit mehr als das. Es war eine mathematische Gleichung. Liebe plus Lügen plus Geheimnisse, Wahrheit, Vergangenheit, Hoffnung, Angst und Glück. Aber was kam dabei heraus?
Sadie konnte nicht wieder einschlafen. Sie war mit Larry nach oben gegangen, sie hatten sich geliebt und waren in den Armen des anderen eingedöst. Im Moment des Einschlafens hatte sie noch voller Zufriedenheit und Gewissheit gedacht, dass es die richtige Entscheidung war, Maggie nicht
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