Die Toechter der Familie Faraday
sprach Clementine nicht mehr leise. »Ich bin eine schreckliche Mutter. Maggie verdient eine bessere Mutter als mich.«
»O Clemmie, du bist überhaupt keine schreckliche Mutter. Du bist eine großartige Mutter. Sei doch nachsichtig mit dir. Es sind doch noch die ersten Monate. Sie ist noch nicht einmal ein Jahr alt. Du lernst noch. Du musst geduldig sein. Du kannst doch nicht alles von Anfang an wissen.«
»Es geht auch nicht ums Lernen. Fakten kann man lernen. Hier geht es …« Sie suchte nach Worten. »Das ist wie Chaostheorie und Algebra und Trigonometrie und Cross-Country-Sport und seelische Folter zusammen.«
»Wirklich? Na, du bist doch das Hirn der Familie. Du solltest das doch alles im Handumdrehen beherrschen.«
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«
»Natürlich schaffst du das.«
»Ich gefalle mir im Moment nicht, Juliet. So ohne Kontrolle. Das entspricht mir nicht.«
»Das nennst du ohne Kontrolle?« Juliet lachte, stand auf und küsste Clementine, dann Maggie auf den Kopf. »Du vollbringst wahre Wunder. Wir müssen uns alle mehr nach der Decke strecken. Willst du vielleicht eine heiße Schokolade? Vielleicht kannst du dann besser schlafen.«
»Geh noch nicht, Juliet, bitte. Sag, wenn Mum mit uns einen Ausflug gemacht hat, wohin sind wir dann gefahren?«
Juliet setzte sich wieder. »Das war immer lustig. Eines Tages ist sie mit uns auf den Mount Wellington gefahren. Da sollten wir uns dann vorstellen, es wäre der Gipfel des Mount Everest und wir wären Edmund Hillary und sein Sherpa. Wir haben uns da mit Wonne reingestürzt. Ich weiß noch, wie wir eine Stunde später zum Auto zurückgekommen sind – Mum war kalt, und sie hatte uns allein gelassen, sie saß im Auto und hörte Radio -, und Sadie hat Mum ganz aufgeregt von den anderen Bergsteigern erzählt, die auf dem Weg zum Gipfel umgekommen sind, und wie bewegend das war, als sie die Flagge auf dem Gipfel aufgestellt hat, und dann – ich werde Sadies Gesicht niemals vergessen – hat Mum gesagt: ›Tut mir leid, Schatz, aber ich habe keine Ahnung, wovon du da sprichst.‹ Das Spiel war ihre Idee gewesen, und sie hatte es völlig vergessen. Die arme Sadie war in Tränen aufgelöst.«
»Erzähl mir noch eine Geschichte.«
Juliet lächelte. »Ich erinnere mich auch noch, wie Dads erster Chef einmal zum Essen zu uns gekommen ist. Er hatte wirklich tolle Sprüche drauf, sehr originell. Er hat Sachen gesagt wie: ›Das wärmste Jäckchen ist immer noch ein Cognäcchen‹, oder: ›Wir sehen uns in alter Frische, Betonung auf alter.‹ Mum musste sich das Lachen verbeißen und ist alle zehn Minuten aufgestanden, hat sich entschuldigt und so getan, als müsste sie ins Bad. Aber ich weiß, dass sie in ihr Schlafzimmer gegangen ist, um sich das alles aufzuschreiben. Sie hat gerne komische Bemerkungen aufgeschrieben. Am Ende hat Dad dann gesagt: ›Tessa, jetzt bring endlich dein Tagebuch hier runter, sonst denkt der arme Mann doch, du hast eine Blasenentzündung.‹«
»Das hat Dad wirklich gesagt?«
»Mum war außer sich.«
»Ich wusste ja nicht einmal, dass Mum überhaupt Tagebuch geführt hat. Hat Dad die Bücher noch? Hast du sie jemals gelesen?«
»Nein, natürlich nicht. Man liest doch keine fremden Tagebücher.«
Clementine setzte sich aufrecht hin. »In so einer Situation aber wohl, Juliet, verstehst du denn nicht? Wenn Mum Tagebuch geführt hat, hat sie doch bestimmt aufgeschrieben, wie es mit uns war. Wie es war, Mutter zu sein. Ich muss sie lesen. Wann hast du die Bücher zum letzten Mal gesehen?«
»Im Krankenhaus.« Juliet zögerte. »Nach ihrem Tod musste ich ihre Sachen holen. Ihr Tagebuch war auch dabei.«
»Hat Dad das denn nicht gemacht?«
»Nein, er konnte das nicht.« Juliet erzählte Clementine nicht, dass er sich nach Tessas Tod zwei Tage lang in seinem Schlafzimmer eingeschlossen hatte. Juliet, damals fünfzehn Jahre alt, hatte mit dem Krankenhaus besprochen, was mit dem Leichnam ihrer Mutter geschehen, und mit dem Priester, wie die Beerdigung ablaufen sollte.
»Was hast du mit dem Tagebuch gemacht?«
»Dad hat mir gesagt, ich sollte es in ihrem Schlafzimmer lassen. Im Kleiderschrank. Und als ich es da hineingelegt habe, habe ich ganz viele gesehen. Alles die gleichen kleinen blauen Notizbücher. Sie muss über Jahre Tagebuch geführt haben.«
»Ich muss sie lesen.«
»Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil Dad das niemals zulassen wird. Und das weiß ich deshalb so genau, weil ich ihn vor einigen Jahren
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