Die Toechter der Familie Faraday
unaufmerksam. Wahrscheinlich waren wir einfach zu viele. Man konnte so gut wie nie mit ihr allein sein. Und manchmal war sie auch ein wenig launisch. Sie konnte ganz plötzlich wütend werden, besonders auf Sadie. Und hin und wieder auch auf Miranda.«
Clementine lächelte und streichelte sanft über Maggies Kopf, zerzauste das weiche schwarze Haar. »War sie denn nie auf dich wütend?«
»Nein, auf mich niemals. Das ist vermutlich das einzig Gute daran. Dass sie gestorben ist, bevor wir uns allzu oft streiten konnten.«
Clementine zögerte. »Juliet, weißt du, dass Dad immer noch all ihre Kleider in seinem Schrank aufbewahrt? Nach all den Jahren?«
Juliet lächelte. »Ich dachte, das wäre mein Geheimnis. Dass nur ich das wüsste.«
»Ist das denn nicht komisch, nach so langer Zeit? Hätte er sie denn nicht, ich weiß nicht, verschenken oder uns geben sollen?«
»Womöglich. Keine Ahnung. Keine Ahnung, was normal ist. Vielleicht hilft es ihm.«
»Ich hätte gerne etwas von Mum. Und auch etwas für Maggie.«
»Ich auch. Aber weißt du noch, was damals passiert ist, als Miranda leihweise ihr …« Sie brach ab. »Entschuldige, wahrscheinlich erinnerst du dich nicht. Du warst ja noch ein Kind.«
»Dann erzähl es mir.«
»Das war etwa anderthalb Jahre nach Mums Tod. Miranda wollte auf den Abschlussball an der Schule und brauchte einen goldenen Schal oder ein Tuch. Sie hat zu Dad gesagt, dass Mum doch so etwas hatte, und fünf Minuten später ist er mit dem Schal zu Miranda gekommen. Miranda hat Dad geherzt und umarmt, als ob er ihr ein Tiffany-Collier geschenkt hätte.«
»Das ist aber ungerecht. Warum darf sie etwas von Mum haben und wir nicht?«
»Sie hat ihn nie getragen. Als sie am nächsten Abend zurechtgemacht war und damit ankam, ist Dad vollkommen ausgeflippt. Er hat gesagt, es täte ihm leid, aber sie könnte den Schal nicht haben. Er wäre von Tessa, und er hätte ihn Miranda niemals geben dürfen. Und das war’s. Sie hat ihn zurückgegeben, und er hat niemals wieder etwas rausgerückt.«
»Aber er hat uns doch ihre Sammelbücher gegeben. Und ihre Kochbücher. Du nimmst doch immer ihre Rezepte.«
»Wahrscheinlich, weil wir ihr dabei geholfen haben. Deshalb ist das wohl etwas anderes.«
»Aber was ist mit all den anderen Sachen, die auf sie zurückgehen? Weihnachten im Juli. Das war doch ihre Idee, oder?«
Schweigen. »Die Idee ist ihr erst am Tag vor ihrem Tod gekommen. Du warst dabei.«
»Das darf doch nicht wahr sein, dass ich mich daran nicht erinnere!« Clementine wandte sich an Juliet. »Was ist mit all den anderen Sachen, die wir zu ihrem Gedenken tun? Der Geburtstagsthron? Die Schatzsuche zu Ostern? Hat sie das je mit uns gemacht?«
»Das ja«, sagte Juliet. »Du hast doch die Fotos in ihrem Sammelbuch gesehen.«
Juliet überkam plötzlich eine Erinnerung. Sie saß mit ihrer Mutter im Wohnzimmer – aber war das in Hobart oder noch in London? -, als Tessa verkündete, dass sie eine violette Seite in ihr neues Sammelbuch einkleben wollte. Sie hatte Juliet, Miranda und Eliza Scheren und Zeitschriften gegeben, die Eieruhr auf zehn Minuten gestellt und »Los!« gerufen. Als die Zeit abgelaufen war, hatten überall glänzende Papierschnipsel herumgelegen. Miranda hatte gewonnen, mithilfe einer Kochzeitschrift. Sie hatte Auberginen, Trauben und Pflaumen ausgeschnitten.
Es stimmte Juliet sehr traurig, dass Clementine nicht solche Erinnerungen an ihre Mutter hatte. Die Aufregung, die spontanen Spiele, all der Spaß. Das waren die hellen Momente, der Schatten die Stimmungsschwankungen gewesen. Auf jedes Hoch war ein Tief gefolgt, wenn Tessa nicht mit ihnen spielen wollte, wenn Leo kochen musste, wenn die Schlafzimmertür fast den ganzen Tag lang geschlossen blieb. »Eure Mutter ist nur müde«, hatte Leo dann immer gesagt. »Sie muss sich nur ein wenig ausschlafen.« Er hatte sie abgeschirmt, wie üblich. Sie wie eine Kostbarkeit behandelt. Voller Ehrfurcht. Bis heute.
»Ich müsste mich an viel mehr erinnern können«, sagte Clementine. »Ich habe in einem Buch gelesen, dass man selbst als Mutter so wird, wie man es von seiner eigenen Mutter gelernt hat. Und wenn ich mich überhaupt nicht an sie erinnern kann, hatte ich ja wohl gar keine richtige Mutter, oder? Heißt das dann, dass ich Maggie eine schlechte Mutter werde und nicht richtig weiß, wie ich mich um sie kümmern muss?«
»Du machst alles richtig. Du bist eine tolle Mutter. Das sagt jeder.«
»Da haben sie unrecht.« Jetzt
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