Die Toechter der Familie Faraday
versprochen, sie alle mitzunehmen, sobald sie es sich leisten konnten. In der Küche hatte eine Büchse mit einem Zettel gestanden: »Urlaubskasse«, darunter hatte ihre Mutter ein kleines Bild von einem Flugzeug gemalt.
»Wir alle sieben nach England? Da reicht aber keine kleine Sparbüchse, da braucht man ja einen Swimmingpool voller Geld«, hatte Miranda gesagt.
Nach Tessas Tod war die Büchse in den Küchenschrank verbannt worden. Von dem Geld hatten sie Lebensmittel gekauft. Von einer Reise nach Großbritannien war nicht mehr die Rede.
Das lag aber nicht nur an den Kosten oder am Zeitmangel wegen Arbeit und Studium. Die Familienbande wurden immer lockerer. Leos Eltern waren vor vielen Jahren schon gestorben. Tessas Eltern lebten in einem Altersheim im Norden Londons. Sie waren nicht in der Verfassung gewesen, zu Tessas Beerdigung zu kommen. Tessas Mutter hatte hohen Blutdruck, und ihr Vater wollte ohne seine Frau nicht verreisen. Gelegentlich kam ein Brief oder ein Anruf zu Weihnachten, aber sie hatten sich nie besonders nahegestanden. Leo hatte einmal angedeutet, dass sich Tessa, noch dazu Einzelkind, mit ihren Eltern nicht gut verstanden hätte, vor allem nicht mit ihrer Mutter. Der nächste lebende Verwandte der Faradays war Leos Bruder Bill, ein Arzt. Er war zweimal bei ihnen zu Besuch gewesen, einmal, gleich nachdem sie ausgewandert waren, das zweite Mal nur wenige Monate vor Tessas Tod. Juliet erinnerte sich noch gut an ihn: immer zu Späßen aufgelegt, ein großartiger Unterhalter, in dem Maße extrovertiert, wie ihr Vater einfühlsam war. Mit seinem kurzen Haar, seiner Ähnlichkeit mit Errol Flynn und seinem Temperament hatte Bill Juliet an den Helden aus einem Kriegsfilm erinnert. Er hatte sich großartig mit Tessa verstanden, und eines Abends hatten sie zum Vergnügen der Mädchen sogar in der Küche gesungen und getanzt. »Na komm, Daddy«, hatte die neunjährige Miranda angeblich gerufen. »Tanz du doch mit mir. Ich bin die Dame und du Fred der Star.«
Bill hatte in den ersten beiden Wochen nach Tessas Tod täglich angerufen. Meist hatte Juliet mit ihm gesprochen, weil sich ihr Vater nicht in der Lage sah, ans Telefon zu gehen. Juliet hatte oft den Eindruck gehabt, dass ihr Onkel betrunken klang, aber sie hatte ihrem Vater nichts gesagt. »Sie war so ein tolles Mädchen«, hatte er ständig wiederholt. »Was für eine Tragödie.«
Seither waren nur wenige Anrufe gekommen. Zu Besuch kam er gar nicht mehr. Vielleicht wollte Bill die weite Reise nicht antreten, ohne die lebhafte, tanzende und singende Frau an der Seite seines Bruders zu sehen.
»Eurer Mutter hat es in Bicheno so gut gefallen, weil es sie an das Haus ihrer Großmutter in Donegal erinnert hat«, verkündete Leo, als die Straße vor ihnen anstieg.
Miranda, die auf der Rückbank zwischen Clementine und der Tür eingeklemmt saß, gab einen lauten Schnarchton von sich. Juliet sah sie strafend an.
»Dad, das erzählst du uns jedes Mal, wenn wir hier langfahren«, sagte Clementine milde.
»Wirklich?«
Miranda schüttelte den Kopf, wandte sich ab und schaute aus dem Fenster. »Was für ein beklagenswerter Zustand. Da hocke ich nun mit meinen vierundzwanzig Jahren in einem Auto mit meiner viel zu großen Familie, und darunter ist auch noch ein müffelndes Kind.« Sie hielt sich die Nase zu und sprach nuschelnd weiter. »Sag mal, Dad, warum erfindest du nicht eine riesige Windel, die das Baby den ganzen Tag tragen könnte, mit Schläuchen, die die Fäkalien in unterschiedliche kleine Abteilungen transportieren und der Mutter dadurch viele Stunden des Windelwechselns ersparen und …«
»Das ist keine schlechte Idee. Hab ich euch übrigens schon von meinem neuesten Projekt erzählt?«
Miranda hielt sich die Ohren zu. »Nein, aber nur zu.«
Eliza wandte sich wieder ihrem Buch zu. Sie konnte im Auto lesen, ohne dass ihr übel wurde. Sadie spielte mit Maggie »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Juliet machte die Einkaufsliste. Sie mussten in Bicheno einkaufen, für Vorräte war im Wagen kein Platz mehr gewesen.
Leo erzählte weiter, obwohl ihm niemand mehr zuhörte. »Die Idee ist mir gekommen, als ich Pete von nebenan beim Rasenmähen zugeschaut habe. Er musste drei Mal Benzin nachfüllen. Da hab ich mir gedacht, es muss doch eine effizientere Lösung geben. Also arbeite ich im Moment an einer …«
Miranda schloss die Augen. Nach nur fünf Minuten schlief sie ein. Sie wurde erst wieder wach, als sie in die Einfahrt ihres
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