Die Toechter der Familie Faraday
ihre Kratzer hinterlassen hatten, wie auch Schrammen an Beinen und Kanten. Sie malte sich aus, wie viele Unterhaltungen, Streitgespräche, erste und letzte Momente einer Liebe an diesem Tisch wohl stattgefunden hatten. Er erinnerte sie an den alten Holztisch, der in ihrer Küche in Hobart gestanden hatte.
»Du bist viel zu sentimental, das ist dein Problem«, hätte Angus gesagt. »Deine Familie hat wirklich ganz schön viel bei dir angerichtet.«
Sie zündete eine Duftkerze an, die nach Zimt roch, und stellte sie mitten auf den Tisch. Ein Topf mit Glühwein köchelte auf dem Herd in der kleinen Küche und verbreitete sein dampfendes Aroma aus Rotwein, Nelken und Gewürzen. Bing Crosby balzte Weihnachtslieder, seine Stimme kam aus der schicken Stereoanlage in der Ecke. Maggie hatte Lametta über die Vorhangstange drapiert und einen Stern aus Metallfolie, der sich langsam drehte, an die Decke gehängt. Mehr Platz war nicht. Das Apartment war winzig. Es gab nicht einmal genug Raum für ein Bett – es überdauerte den Tag zusammengeklappt in einem Schrank im Wohnzimmer.
Aber das Apartment hatte fünf Vorteile. Maggie hatte sie aufgelistet:
1. Es war sicher. Es lag nicht nur im sechsten Stockwerk, sondern hatte zudem einen Portier, der als das menschliche Äquivalent zu einem misstrauischen Dobermann gelten konnte. Sie hatte zehn Minuten benötigt, ihn davon zu überzeugen, dass sie das Recht hatte einzuziehen, als sie drei Monate zuvor mit ihrem Koffer angekommen war. Er hatte ihren Ausweis sehen wollen. »Sie sehen aber gar nicht wie sechsundzwanzig aus«, hatte er gesagt. »Wirklich? Danke«, hatte sie geantwortet, obwohl sie das schon Hunderte Male zuvor gehört hatte.
2. Es war ruhig. Die Bars und Clubs auf der Bleecker Street waren nur wenige Meter entfernt, doch man konnte weder laute Musik noch Stimmen hören, nur das beständige Summen der Stadt – eine Geräuschkulisse aus Millionen von Gesprächen und Automotoren, auf ein unterschwelliges Murmeln gedämpft. Das hatte Maggie überrascht. Sie war auf Gehupe, Geschrei und Streit gefasst gewesen, nicht auf dieses beruhigende Summen.
3. Eine Wand war vollständig verglast. So war das Wohnzimmer immer von Licht erfüllt, das ganze Jahr über. Zwar konnten die Nachbarn bei geöffneten Vorhängen zu ihr hereinschauen, aber sie auch bei ihnen. Das schien ihr fair.
4. Es lag mit Blick auf einen kleinen Park. Das war eine weitere Überraschung. Maggie hatte erwartet, dass man von New Yorker Apartments aus immer nur weitere Gebäude, Beton und Straßen sehen könnte, nicht diese kleine grüne Oase. Dort wuchsen so viele verschiedene Bäume, dass einer immer in Blüte stand oder Laub trug. Und fünfzehn Bänke standen dort. Sie hatte auf allen gesessen.
5. Es hatte einen Balkon. Einen halben Balkon, genauer gesagt, aber die Trennwand sorgte für ausreichend Privatsphäre, und sie hörte ohnehin kaum etwas von ihrem Nachbarn.
Es gab nur drei Nachteile:
1. Die Küche war so klein, dass dort nur Platz für einen Herd mit zwei Kochplatten war, und die größere Platte funktionierte nicht. Sie hatte morgens einen Reparaturdienst angerufen.
2. Der Nachbar oder die Nachbarin auf der anderen Seite war seltsam. Zu jeder Tag-und Nachtzeit wach, sprach laut mit sich selbst und war süchtig nach Gameshows. Der Fernseher dröhnte ständig.
3. Das Paar am anderen Ende des Korridors ernährte sich ausschließlich von Hamburgern und Fritten, und vor seiner Tür hing stets ein fettiger Fleischgeruch. Maggie hielt sich beim Verlassen des Apartments immer die Nase zu und eilte im Stechschritt zum Lift.
Fünf Vorteile, drei Nachteile, das Gute überwog. Clementine hatte ihr beigebracht, so zu denken, und es war auch das Credo ihres Großvaters. »Du musst das Positive sehen.« »Dir geht es doch gut.« »Es könnte doch alles viel schlimmer sein.« Wirklich? Maggie hoffte nicht. Sie hatte so schon Mühe, sich am Riemen zu reißen.
»Betrachte es einfach als Urlaub«, hatte ihre Tante Miranda gesagt, als sie ihr das Apartment in New York angeboten hatte. »Als Refugium. Nur für dich, ohne Miete, ohne Mitbewohner.«
Ohne Arbeit, ohne Freund, ohne ihr altes Leben. Es war ihr wie ein Rettungsanker erschienen, der einzige Ausweg. Sie musste ihre Wohnung, ihren Job, Angus, all das hinter sich lassen. Versuchen, durch eine einschneidende Veränderung das Entsetzliche zu verdrängen. Doch das Problem war, es war mit ihr gereist. Sie dachte immer noch jeden Tag daran. Sie war noch
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