Die Toechter der Familie Faraday
dir guttun, Maggie.«
»Du darfst dir keine Vorwürfe machen, und außerdem braucht jeder mal eine kleine Auszeit.«
Maggie brauchte keine Auszeit. Sondern eine Wiederholung. Aber bis zu welchem Punkt sollte sie zurückgehen? Hatte alles in ihrem Leben zu diesem einen entsetzlichen Moment geführt? Wenn sie nur eine Prüfung in der Schule oder an der Universität vermasselt hätte, zu einem Vorstellungsgespräch zu spät gekommen wäre, hätte sich dann das Geschehen an jenem Tag vermeiden lassen?
»Du darfst das nicht immer wieder durchspielen, Maggie«, hatte Clementine gesagt. »Du wirst doch verrückt.«
Aber sie musste es immer wieder durchspielen. Sie konnte nicht anders. Das hatte sie doch in ihrem Beruf gelernt: Details immer wieder durchzusehen, Diagramme und Tabellen zu analysieren, das fehlende Glied zu finden, die böse Zahl, die fehlerhaften Ziffern. Sie hatte das auf ihr Leben übertragen. Sie analysierte im Rückblick jeden Tag, wünschte sich, sie hätte manches anders gesagt, etwas anderes angezogen, gelassener reagiert. Sie las ihr Leben Korrektur. Das ließ sich nicht einfach abschalten.
Sie hätte niemals gedacht, dass etwas, das sie so liebte, sie an diesen Punkt führen würde. Sie hatte oft mit Leo und Clementine darüber gesprochen, was für ein Segen es war, auf einem Gebiet, das man liebte, arbeiten zu können: Leo mit seinen Erfindungen, mit denen er von Mal zu Mal mehr Erfolg hatte, obwohl er sich längst zur Ruhe setzen sollte, Clementine mit ihrer bahnbrechenden Forschung über seltene Vogelarten und ihren Lebensraum. Sie war um die ganze Welt gereist und hatte Studien auf Inseln vor der australischen Küste und an einigen der entlegensten Orte der Welt initiiert. Maggie war in der Welt der Zahlen zu Hause. In der Grundschule hatte sie sich auf den Mathematikunterricht gefreut. In der Highschool war sie Klassenbeste. Als ein engagierter Lehrer ihr Talent erkannte, durfte sie eine Klasse überspringen. »Ihnen steht alles offen«, hatte ein Berufsberater gesagt. »Sie können in die Forschung gehen, in die Lehre, die Wirtschaft …«
Sie hatte sich für die Finanzwirtschaft entschieden. Die Hochfinanz, genauer gesagt. Miranda war natürlich angewidert gewesen. »Darling, das ist ja entsetzlich langweilig. Und ich hatte so große Hoffnungen in dich gesetzt. Warum gründest du nicht selbst eine Firma?«
Sie wollte nicht. Ihr gefiel die Sicherheit des Angestelltendaseins in einem großen Konzern. Ihr gefiel es, ein eigenes Büro zu haben, wo sie sich in Ruhe über Bilanzen beugen, Budgets analysieren, Verkaufszahlen und -erwartungen bewerten konnte. Ihr gefiel es nahe am Herzschlag der Wirtschaft.
»Du bewegst dich doch hoffentlich genug?«, fragte Eliza immer. »Bei dem Gedanken, dass du da Stunden und Tage in deinem Büro hockst, ist mir gar nicht wohl.« Das war vor Elizas Unfall gewesen, als sie jeden Tag fünf Kilometer gelaufen war und darauf geachtet hatte, dass ihre Klientinnen die doppelte Strecke liefen. Selbst nach ihrem Unfall, als sich Elizas Fokus geändert hatte, war sie immer noch sehr um Maggies körperliches Wohlergehen besorgt. Maggie bekam jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn sie an einem Fitnessstudio vorbeikam. Zu ihrem Glück hatte sie die schlanke Figur ihrer Mutter geerbt.
»Tu einfach, was du willst, Maggie«, sagte Juliet immer. »Es ist dein Leben. Solange du nur vernünftig isst und mich und Myles regelmäßig besuchst.«
Maggie war der Erfolg auf einem Silbertablett präsentiert worden. Nachdem sie den besten Studienabschluss ihres Jahrgangs an der Universität von Tasmanien gemacht hatte, war sie zum Postgraduiertenstudium nach Sydney gegangen und dort von einer großen Firma vom Fleck weg engagiert worden. Sie war zu Ausbildungszwecken um die ganze Welt geschickt worden. Sie hatte sich schnell an das ständige Reisen, die Annehmlichkeiten der Businessklasse gewöhnt – aber sie war ja auch von Kindesbeinen an gereist. Sie flog auch, so oft es ging, nach Tasmanien, zu Leo und Clementine und zu einem der weihnachtlichen Familienfeste, manchmal sogar zu beiden.
Drei Jahre zuvor hatten ihre Arbeitgeber in Sydney eine Firma in London, die sich auf den Großhandel für Supermärkte spezialisiert hatte, übernommen. Man hatte ihr die Versetzung schmackhaft gemacht. Mit einem außerordentlich großzügigen Relocation Package. Man setzte große Hoffnungen in sie, hatte der Geschäftsführer gesagt. Maggie hatte ihre Mutter angerufen, ihren Großvater,
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