Die Toechter der Familie Faraday
all ihre Tanten.
»Natürlich musst du zugreifen«, hatten sie alle gesagt. »Das ist doch eine tolle Gelegenheit, und noch dazu in deinem Alter.«
In London hatte es ihr augenblicklich gefallen. Ihre Arbeitgeber hatten ihr eine Wohnung in einer guten Gegend besorgt, ein Auto zur Verfügung gestellt und belohnten ihre langen Arbeitszeiten mit einem exzellenten Gehalt. Sie hatten sie auch mit Angus bekannt gemacht. Er hatte die Funktion des Dispositionsleiters einer Tochterfirma inne. Sie hatten sich auf einer Weihnachtsfeier der Firma kennengelernt. Gleich am folgenden Tag hatte er begonnen, sie zu umwerben. Drei Monate später waren sie zusammengezogen. Angus hatte sie ermuntert, noch härter zu arbeiten, sich um Beförderungen zu bemühen und ihre Kontakte mit der Führungsetage auszubauen. Sein Ehrgeiz war weit größer als ihrer.
Und jeder Schritt hatte sie, wenn auch unwissentlich, jenem Augenblick näher gebracht.
»Es war nicht deine Schuld, Maggie.«
Es war ihre Schuld. Sie hatten nicht gehört, was der Mann gesagt hatte.
»Du hast doch den Polizeibericht gelesen, Maggie. Er war vollkommen aus dem Gleichgewicht.«
Möglicherweise. Aber ihre Arbeit hatte ihn zu Fall gebracht.
Ein schwungvolles Klingeln ließ sie zusammenfahren. Die CD mit den Weihnachtsliedern ging zu Ende. Sie nahm die Fernbedienung und ließ die CD ein drittes Mal laufen. Sie hatte den ganzen Morgen lang Musik gehört, beim Einpacken ihrer Geschenke. Sie hatte bei Perry Como, Ella Fitzgerald und Frank Sinatra mitgesungen und dabei den einen oder anderen Schluck Glühwein getrunken. Sie war fast fertig. Noch eine Schleife um Elizas Geschenk, einige Schichten Polsterfolie um Juliets, dann konnte alles zur Post.
Sie bemühte sich nach Kräften, den Anflug von Traurigkeit darüber zu ignorieren, dass sie dieses Jahr nicht beim Auspacken der Geschenke zugegen wäre. Denn das war das Zweitschönste an Weihnachten. Das Schönste war das Aussuchen der Geschenke. Sie suchte das ganze Jahr über und bewahrte sie bis Juli oder Dezember auf. Dieses Jahr war es anders. All ihre Geschenke waren in London geblieben. Angus hatte sie vermutlich inzwischen weggeworfen.
Als sie mit dem Einpacken fertig war, holte sie einen großen Beutel aus der Küche, legte die Geschenke hinein und sagte jedem einzeln Auf Wiedersehen.
Das Paket für ihren Großvater war zuerst dran. Sie tätschelte es. »Frohe Weihnachten, Tollpatsch.« Er bekam eine goldene Schachtel mit handverlesenen Pralinés. Für einen dünnen Mann hatte er einen enormen Appetit auf Süßes. Er zog den Genuss gerne in die Länge und aß tagelang an einer Tafel Schokolade. In seinem Schuppen war immer ein Vorrat. Leo zeigte auch gerne Studien herum, die belegten, dass die Inhaltsstoffe von Schokolade direkten Einfluss auf die Gehirnaktivität hatten und die Glückshormone stimulierten.
»Das gilt für Mäuse, Leo«, sagte Miranda immer. »Nicht für verrückte Erfinder.«
Maggie hatte als Kind auf den Reisen zu ihren Tanten damit begonnen, ihrem Großvater von unterwegs Päckchen mit Schokolade zu schicken. An der Gewohnheit hatte sie festgehalten. Leo hatte während ihres Studiums regelmäßig Süßigkeiten aus Sydney bekommen, Pakete aus Kanada, als sie dort ein halbes Jahr lang als Trainee gearbeitet hatte. Aus London hatte er monatliche Sendungen erhalten: Drops, traditionelle Sahnetoffees und die Süßigkeiten mit den lustigen Namen, die es nur bei Marks & Spencer gab und die er so liebte: Fantastically Fizzy Fish, Squealingly Fizzy Piglets.
Maggie hatte Leos Weihnachtsgeschenk im Laufe der vergangenen sechs Wochen ausgewählt. Sie hatte die Vereinten Nationen der New Yorker Süßwarenläden durchkämmt. In Little Italy war sie auf einen kleinen Laden gestoßen, der dunkle, zart schmelzende Schokolade aus Venedig importierte, in Herzform und in rotes Zellophan eingewickelt. Der Supermarkt in der Nähe, der rund um die Uhr geöffnet hatte, verkaufte Hershey’s-Schokolade. Tollpatsch mochte sie, weil diese Sorte angeblich eine andere Konsistenz hatte, auf der Zunge rauer und daher interessanter war. Aber er liebte auch cremige Schweizer Schokolade. Sie entdeckte einige Tafeln neben der Theke eines kleinen Restaurants namens Edelweiß, auf der 59. Straße, zwei Blocks vom Broadway entfernt. Außerdem hatte sie ihm mit Schokolade überzogene Nüsse aus einem spanischen Lebensmittelladen auf der 34. Straße in das Paket gelegt, gezuckerte Mandeln aus Chinatown und hausgemachten
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