Die Toechter der Kaelte
die Uhr zeigte ihr, daß noch ein paar Stunden fehlten, bis er von der Arbeit heimkommen sollte.
»Hallo, bist du schon zu Hause?« fragte sie verwundert und wollte aufstehen.
»Bleib sitzen, wir müssen reden«, erwiderte er. Ihr wurde schwer ums Herz. Was immer er auch zu sagen hatte, es konnte nichts Gutes sein.
Fjällbacka 1928
Das Leben im Haus brachte keine so großen Verbesserungen mit sich, wie sie erhofft hatte. Noch immer war sie weit entfernt von der Leichtigkeit früherer Zeiten. Und mit jedem weiteren Jahr nahm ihre Bitterkeit zu, und ihr früheres Leben erschien ihr immer mehr wie ein ferner Traum. Hatte sie wirklich schöne Kleider getragen, bei großen Festen am Flügel gesessen, Kavaliere gehabt, die sich um einen Tanz mit ihr rissen und, vor allem, so viel Essen und Leckerbissen verspeisen können, wie sie nur wollte?
Sie hatte sich nach ihrem Vater erkundigt und zu ihrer Zufriedenheit erfahren, daß er ein gebrochener Mann war. Er wohnte jetzt allein in dem großen Haus und verließ es nur, um zur Arbeit zu gehen. Agnes freute sich darüber und hegte zugleich die winzige Hoffnung, daß er sie vielleicht erneut in Gnaden aufnahm, wenn sein Leben elend genug wurde. Aber die Jahre vergingen, und nichts geschah, und diese Hoffnung schien immer vergeblicher zu werden.
Die Jungen waren jetzt vier Jahre alt und vollkommen hoffnungslos. Sie rannten, so klein sie waren, wild im Viertel herum, und Agnes hatte weder Lust noch die Energie, sie zu erziehen. Und Anders’ Arbeitstage waren noch länger geworden, jetzt, wo er sich vom Ort bis in den Steinbruch begeben mußte. Er verließ das Haus, ehe die Jungen aufwachten, und kam erst nach Hause, wenn sie schon schliefen. Nur an den Sonntagen konnte er etwas Zeit mit ihnen verbringen, und da freuten sie sich so sehr über seine Anwesenheit, daß sie sich wie kleine Engelchen verhielten. Weitere Kinder waren nicht hinzugekommen, dafür hatte Agnes gesorgt. Anders hatte ein paar unbeholfene Versuche unternommen, das Thema und seinen Wunsch, in ihr Bett zu kommen, aufzugreifen, aber sie hatte keine Schwierigkeiten gehabt, nein zu sagen. Die Lust, die sie früher für ihn empfunden hatte, war ihr jetzt gänzlich fremd. Erwiderte sie nur noch an, und es schauderte sie, wenn seine schmutzigen, rissigen Finger sich ihrer Haut näherten. Daß er gegen das lange, aufgezwungene Zölibat nicht protestierte, verstärkte nur noch ihre Ver achtung. Was manche Freundlichkeit und Güte nannten, war in ihren Augen nur Rückgratlosigkeit, und die Tatsache, daß er sich noch immer um die meisten Arbeiten im Haus kümmerte, bestätigte nur dieses Bild. Kein richtiger Mann wusch die Sachen seiner Kinder und machte sich selbst Proviant zurecht, und sie verschloß effektiv die Augen davor, daß ihre Weigerung, diese Arbeiten zu tun, ihn dazu zwang.
»Mutter, Johan hat mich geschlagen!« Karl kam angerannt, als sie auf der Vortreppe saß und eine Zigarette rauchte, eine Unsitte, die sie in den letzten Jahren angefangen hatte und für die sie Anders aufmüpfig um Geld bat, fast hoffend, er möge protestieren.
Sie musterte den weinenden Jungen kalt und blies ihm dann langsam eine Rauchwolke ins Gesicht. Er begann zu husten und rieb sich die Augen. In dem Versuch, Trost zu finden, drückte ersieh an sie, aber wie so viele Male zuvor weigerte sie sich, seine Zärtlichkeitsbezeugungen zu erwidern. Das konnte Anders erledigen. Er verhätschelte die Kinder schon genug, also mußte sie die Gören nicht auch noch zu Muttersöhnchen machen. Brüsk stieß sie ihn weg und gab ihm einen Klaps auf den Hintern.
»Heul nicht, schlag lieber zurück«, sagte sie ruhig und blies eine weitere Rauchwolke in die klare Frühlingsluft.
Karl warf ihr einen Blick zu, der all die Trauer enthielt, die er über die erneute Abweisung empfand, aber dann beugte er den Kopf und trottete dorthin zurück, wo sein Bruder war.
Vor ein, zwei Jahren hatte die Nachbarsfrau die Stirn gehabt, zu ihr zu kommen und zu erklären, sie solle ihre Kinder besser beaufsichtigen. Sie hatte sie allein draußen auf der Anlegebrücke am Ladekai spielen sehen. Agnes hatte die kleine häßliche Frau nur mit leerem Blick angesehen und ihr dann in aller Ruhe zu verstehen gegeben, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Wenn man bedenke, daß ihre älteste Tochter in die Stadt abgehauen sei und, wie man höre, sich dort versorge, indem sie sich zeige, wie Gott sie geschaffen habe, solle sie hier nicht
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