Die Toechter der Kaelte
dir verzeihen kann, dann mußt du Verantwortung übernehmen und eine Möglichkeit suchen, damit ihr zusammen weitergehen könnt. Als erstes mußt du dafür sorgen, daß ihr aus diesem Haus wegkommt. Charlotte hat sich bei Lilian schon früher nicht wohl gefühlt, und ich weiß, daß es seit Saras Tod noch schlimmer geworden ist. Ihr müßt euer eigenes Heim haben. Wo ihr wieder zueinanderfinden und wo ihr Sara in Ruhe betrauern könnt. Wo ihr eine Familie werden könnt.«
Niclas nickte. »Ja, ich weiß, daß du recht hast. Ich hätte schon längst dafür sorgen sollen, aber ich steckte so tief in meinen eigenen Angelegenheiten, daß ich nicht gesehen habe …«
Er beugte den Kopf über den Tisch und starrte auf die Platte. Als er wieder aufsah, waren seine Augen voller Tränen. »Mir fehlt sie so, Erica. Mir fehlt sie so, daß mir ist, als würde ich total in Stücke brechen. Sara ist nicht mehr da, Erica. Erst jetzt begreife ich das. Sara ist nicht mehr da.«
Die Tränen liefen ihm die Wangen hinunter und tropften auf den Tisch. Sein ganzer Körper zitterte, und das Gesicht verzerrte sich, bis es nicht mehr wiederzuerkennen war. Erica streckte ihre Hand über den Tisch und nahm die seine. Lange saß sie so da und hielt sie, während er seinen Schmerz herausließ.
Am Wochenende war es wieder passiert. Seit dem letzten Mal war einige Zeit vergangen, und er hatte gerade angefangen zu hoffen, daß alles nur ein Traum war oder daß es ein für allemal aufgehört hatte. Aber dann kamen diese Augenblicke wieder. Die Augenblicke des Ekels, des Verleugnens und des Schmerzes.
Wenn er nur gewußt hätte, wie er dagegen ankämpfen sollte. Als es geschah, hatte Willenlosigkeit seinen Körper gelähmt, und er ließ sich einfach mittreiben.
Sebastian legte die Arme um die Knie, als er auf dem Veddeberget saß. Von hoch oben blickte er auf die Bucht. Es war kalt und windig, aber irgendwie war das schön. Dann fühlte er sich außen genau wie innen. Doch am liebsten hätte es auch regnen sollen. Denn genauso fühlte es sich in seinem Inneren an. Als ob es regnete. Es prasselte herunter und schwemmte alles weg, was gut und heil war, in ein riesiges Abflußloch.
Rune hatte ihn außerdem gescholten. Das kam noch zu all dem anderen hinzu. Er hatte gepoltert und geschrien und gesagt, er würde genau sehen, daß er sich zu wenig anstrengte. Daß er mehr zuwege bringen müßte. Daß er keine Zukunft vor sich hätte, wenn er nicht mehr arbeitete, denn schließlich fiel ihm das Lernen nicht gerade leicht. Aber er hatte es versucht. So gut er es unter diesen Umständen konnte. Es war nicht seine Schuld, daß bei allem nur Scheiße rauskam.
Es stach ihm in den Augen, und Sebastian zog den Pulloverärmel lang und wischte sich damit wütend die Augen trocken. Das letzte, was er wollte, war, hier heulend wie ein kleines Gör dazusitzen. Wo doch alles eigentlich seine Schuld war. Wäre er nur ein bißchen stärker gewesen, dann hätte es nicht passieren müssen. Nicht das erste Mal. Auch das zweite Mal nicht. Nicht wieder und wieder.
Jetzt liefen ihm die Tränen über die Wangen, und er wischte so heftig mit dem derben Stoff darüber, daß im Gesicht rote Streifen zurückblieben.
Für einen Moment kam ihm der Gedanke, mit allem Schluß zu machen. Das wäre so einfach. Ein paar Schritte bis an den Rand vor, und schon konnte er sich hinunterstürzen. In ein paar Sekunden wäre alles vorbei. Er war ja doch für niemanden wichtig. Rune wäre sicher nur erleichtert. Dann brauchte er sich nicht mehr um das Kind eines anderen zu kümmern. Vielleicht würde er sogar jemand Neues kennenlernen und dieses eigene Kind bekommen, das er so gern haben wollte.
Sebastian stand auf. Der Gedanke blieb verlockend. Langsam ging er zum Felsrand vor und schaute hinunter. Es war hoch. Er versuchte sich vorzustellen, wie sich das wohl anfühlte. Durch die Luft zu fliegen, ein paar Augenblicke lang völlig schwerelos, und dann der Aufprall, wenn sein Körper auf Widerstand traf. Würde er in dem Moment überhaupt etwas spüren? Prüfend streckte er einen Fuß über die Kante und ließ ihn frei in der Luft hängen. Dann fiel ihm ein, daß er durch den Fall vielleicht nicht starb. Was, wenn er nun überlebte, aber gelähmt war oder sonst irgendwas? Ein sabberndes Paket für den Rest seines Lebens? Dann hätte Rune wirklich Grund zu nörgeln. Aber er würde ihn wohl so schnell wie möglich in irgendein Pflegeheim abschieben.
Er zögerte, den Fuß noch immer
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