Die Toechter der Kaelte
immer frisch und pulsierte in ihrem Inneren. Charlotte spürte, daß sie sich schämte, mitten in der Stille eines Friedhofs zu stehen, während ihr der Haß aus jeder Pore drang. Vielleicht würde er mit der Zeit vergehen, aber aus dem Augenwinkel sah sie den Erdhaufen über dem Grab ihres Vaters, der zum zweiten Mal zur letzten Ruhe gebettet worden war, und in diesem Moment fragte sie sich, wie sie überhaupt jemals wieder etwas anderes als Wut und Trauer empfinden sollte.
Lilian hatte ihr nicht nur Sara genommen, sondern auch den Vater, und das würde sie ihr niemals verzeihen. Wie sollte sie auch? Der Pfarrer hatte darüber gesprochen, daß Vergebung ein Weg sein konnte, den Schmerz zu überwinden, aber wie vergibt man einem Monster? Sie verstand nicht, warum ihre Mutter diese schrecklichen Taten begangen hatte, und diese Sinnlosigkeit vervielfachte ihre Wut und ihren Schmerz. War Lilian völlig verrückt, oder hatte sie nach irgendeiner verqueren Logik gehandelt? Daß sie beide es vielleicht niemals erfahren würden, machte den Verlust noch viel schwerer, und Charlotte wollte ihrer Mutter eine Erklärung am liebsten entreißen.
Außer all den Blumen der Leute aus dem Ort, die ihr Mitgefühl ausdrücken wollten, hatte man zwei kleine Kränze in die Kirche gebracht. Der eine war von der Großmutter väterlicherseits. Er war neben dem Sarg abgelegt und dann mit auf den Friedhof getragen worden, wo er später vor dem einfachen kleinen Grabstein liegen sollte. Asta hatte sich mit ihnen in Verbindung gesetzt und gefragt, ob sie kommen dürfe. Charlotte und Niclas hatten freundlich abgelehnt, sie wollten diesen Moment für sich allein haben. Sie hatten die Mutter jedoch gefragt, ob sie unterdessen auf Albin aufpassen könnte, was sie unglaublich gefreut hatte.
Der andere Kranz war von Charlottes Großmutter mütterlicherseits. Den hatte sie jedoch, ohne recht zu wissen, warum, nicht am Sarg haben wollen, und gebeten, ihn zu entsorgen. Sie hatte immer gefunden, daß Lilian ihrer Mutter außerordentlich glich. Irgendwie wußte sie instinktiv, daß das Böse von ihr kam.
Lange standen sie schweigend am Grab, die Arme umeinandergeschlungen. Dann gingen sie langsam davon. Einen kurzen Augenblick hielt Charlotte am Grab ihres Vaters inne. Mit einem leichten Nicken nahm sie Abschied. Zum zweiten Mal in ihrem Leben.
In der kleinen Zelle fühlte sie sich seltsamerweise zum ersten Mal seit Jahren geborgen. Lilian lag seitlich auf der schmalen Pritsche und atmete in langen, tiefen Zügen. Sie verstand die Frustration der Leute nicht, die sie befragten. Was spielte es für eine Rolle, warum sie es getan hatte? Letztlich zählte doch nur die Konsequenz, das Resultat. So war es doch immer. Aber jetzt interessierten sie sich plötzlich, wie es dazu gekommen war, für die Gründe, für die Logik, die sie zu finden glaubten, für Erklärungen, für Wahrheiten.
Sie hätte mit ihnen über den Keller reden können. Uber den schweren, süßen Duft von Mutters Parfüm. Über die Stimme, die immer so verführerisch nahe war, wenn sie »darling« sagte. Und sie hätte von dem strengen, trockenen Geschmack im Mund erzählen können, von dem Monster, das sich in ihr bewegte, immer wachsam, immer bereit zu handeln. Vor allem hätte sie ihnen beschreiben können, wie ihre Hände, die vor Haß, nicht vor Angst zitterten, das Gift in Vaters Tee gaben und sorgfältig umrührten, bis es sich auflöste und verschwand. Ein Glück, daß er seinen Tee immer so süß haben wollte.
Das war ihre erste Lektion gewesen. Niemals einem Versprechen zu trauen. Mutter hatte ja versprochen, daß alles anders werden würde. Wenn Vater nur verschwunden war, dann würden sie ein ganz anderes Leben führen. Zusammen, ganz nah. Nie mehr der Keller, nie mehr dieses Grauen. Mutter würde sie berühren, sie streicheln, sie »darling« nennen, und nichts würde sich je wieder zwischen sie drängen. Aber Versprechen wurden genauso leicht gebrochen, wie sie ausgesprochen wurden. Das hatte sie gelernt und sich unauslöschlich eingeprägt. Manchmal wurde ihr ganz schwindlig bei dem Gedanken, daß die Dinge, die Mutter über Vater gesagt hatte, vielleicht gar nicht stimmten. Aber diese Möglichkeit verdrängte sie in die Tiefen ihrer Seele. An diese Möglichkeit durfte sie nicht einmal denken.
Sie hatte noch eine andere wichtige Lektion gelernt: nie wieder zu erlauben, daß jemand sie verließ. Vater hatte sie verlassen. Mutter hatte sie verlassen. Die vielen
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