Die Toechter der Kaelte
ihm die Stimme, und obwohl Patrik ahnte, in welche Richtung die Sache ging, konnte er doch nicht umhin, ein gewisses Mitleid für Niclas zu empfinden.
»Wie gesagt, ich kann nichts versprechen.« Er wartete darauf, daß Niclas seine Angst überwand und redete. Das Bild der lieben, herzlichen Charlotte tauchte vor ihm auf, und plötzlich vermischte sich sein Mitleid mit Widerwillen. Manchmal schämte er sich, dem männlichen Geschlecht anzugehören.
»Ich …«, Niclas räusperte sich, »… ich habe mich mit jemandem getroffen.«
»Und wer war dieser Jemand?« fragte Patrik, der die Hoffnung völlig aufgegeben hatte, Ernst ins Gespräch mit einzubeziehen. Der Kollege hatte jedoch den Blick vom Fenster gelöst und schaute nun mit großem Interesse auf das Objekt ihrer Befragung.
»Jeanette Lind.«
»Die den Geschenkeladen am Gälarbacken hat?« fragte Patrik. Er konnte sich vage an eine kleine, kurvenreiche Frau mit dunklen Haaren erinnern.
Niclas nickte. »Ja, das ist Jeanette. Wir …«, erneut ein Zögern, »… wir treffen uns seit einer Weile.«
»Was heißt eine Weile?«
»Seit ein paar Monaten, drei vielleicht.«
»Wie ist euch denn das gelungen?« Patriks Neugier war echt. Er hatte nie verstanden, wie Leute, die ein Techtelmechtel hatten, Zeit dafür fanden. Besonders in einem kleinen Ort wie Fjällbacka, wo es genügte, daß ein Auto fünf Minuten vor einem Haus parkte, um die Gerüchteküche in Gang zu setzen.
»Manchmal in der Mittagspause, manchmal habe ich was von Überstunden erzählt. Dann wieder war es ein dringender Hausbesuch.«
Patrik mußte sich mäßigen, um nicht zu dem Kerl hinzugehen und ihm eine runterzuhauen. Solche persönlichen Gefühle konnte er sich nicht gestatten. Sie waren nur hergekommen, um eine Frage bezüglich des Alibis zu klären.
»Und letzten Montag hast du dir vormittags ganz einfach ein paar Stunden freigenommen und bist weggefahren, um diese … Jeanette zu treffen.«
»Ja«, bestätigte Niclas mit rauher Stimme. »Ich habe gesagt, ich würde ein paar Hausbesuche machen, die ich schon länger aufgeschoben hätte, aber daß ich über das Handy erreichbar wäre, falls etwas Akutes anstünde.«
»Aber das warst du doch nicht. Wir haben mehrmals versucht, dich über die Schwester zu erreichen, und du bist nicht ans Handy gegangen.«
»Ich hatte vergessen, den Akku zu laden. Der war leer, doch ich habe es nicht einmal gemerkt.«
»Und um welche Zeit bist du von hier weggefahren, um sie zu treffen, also, deine Geliebte?«
Das letzte Wort schien Niclas’ Gesicht wie ein Peitschenhieb zu treffen, aber er protestierte nicht. Statt dessen fuhr er sich mit den Händen erneut durchs Haar und antwortete müde: »Kurz nach halb zehn, glaube ich. Ich hatte Telefondienst zwischen acht und neun, und danach habe ich ungefähr eine halbe Stunde mit dem Papierkram gesessen. So zwischen halb zehn und zwanzig vor, würde ich denken.«
»Und wir haben dich kurz vor eins erreicht. Bist du zu diesem Zeitpunkt zurück ins Medizinische Zentrum gekommen?« Patrik kämpfte, um seine Stimme neutral klingen zu lassen, aber er konnte nicht anders, als sich Niclas mit seiner Geliebten im Bett vorzustellen, während seine Tochter gleichzeitig tot im Meer lag. Wie man die Sache auch sehen wollte, ein sympathisches Bild von Niclas Klinga ergab es auf keinen Fall.
»Ja, das stimmt. Ich sollte um eins mit der Sprechstunde anfangen, also war ich ungefähr zehn vor eins zurück.«
»Wir werden mit Jeanette reden müssen, damit sie uns das, was du gesagt hast, bestätigt, das verstehst du ja wohl?«
Niclas nickte resigniert. Er wiederholte noch einmal seine Bitte: »Versuch, Charlotte aus der Sache rauszuhalten, es würde sie vollständig fertigmachen.«
Hättest du dir das nicht etwas früher überlegen müssen, dachte Patrik, aber er sagte es nicht laut. Niclas hatte diesen Gedanken in den letzten Tagen bestimmt nicht nur einmal gehabt.
Fjällbacka 1924
Es war so lange her, daß er Freude bei seiner Arbeit empfunden hatte, daß ihm diese Zeit wie ein ferner, schöner Traum erschien, fetzt hatte ihm die Plackerei jeden Enthusiasmus genommen, und er tat nur mechanisch, was getan werden mußte. Agnes’ Forderungen schienen nie abzunehmen. Und sie konnte auch nicht mit dem Geld haushalten, so wie es den anderen Steinmetzfrauen gelang, obwohl diese oft eine große Kinderschar satt bekommen mußten. Es war, als würde ihr alles, was er nach Hause brachte, zwischen den Fingern
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