Die Toechter der Kaelte
»Bekommt sie schon wieder die Brust. Das kann doch seit dem letzten Mal nicht mehr als zwei Stunden her sein.« Sie wartete keine Antwort ab, sondern fuhr unverdrossen fort: »Ja, ich habe jedenfalls versucht, euch zu helfen, daß ihr hier im Haus ein bißchen Ordnung bekommt. Die Wäsche ist gewaschen, und das war einiges, muß ich sagen. Der Abwasch ist auch erledigt, und ich habe versucht, das meiste abzustauben. Und, ja richtig, ich habe ein paar Frikadellen gebraten und in den Tiefkühler gelegt, damit ihr mal was anderes als diese furchtbaren Fertiggerichte in den Magen bekommt. Ihr müßt ordentlich essen, weißt du, und das gilt auch für Patrik. Er schuftet den ganzen Tag, und dann habe ich ja gesehen, daß er sich auch den größten Teil des Abends um Maja kümmern muß, er braucht also alle Nährstoffe, die er nur bekommen kann. Ich war richtig erschrocken, als ich ihn zu Gesicht bekommen habe. Er sah so bleich und mitgenommen aus, einfach schrecklich.«
Die Litanei ging immer so weiter, und Erica mußte die Zähne zusammenbeißen, um dem Impuls zu widerstehen, sich die Ohren zuzuhalten und zu singen, wie es kleine Kinder tun. Zwar hatte sie ein paar Minuten für sich gehabt, solange die Schwiegermutter hier war, das konnte sie nicht leugnen, aber die Nachteile überwogen ganz klar. Den Tränen nahe, starrte sie störrisch auf Ricki Lake im Fernseher. Konnte die Frau nicht endlich verschwinden?
Es schien, als würde ihr Gebet erhört, denn Kristina stellte einen gepackten Koffer in den Flur und zog sich die Jacke an.
»Und ihr kommt jetzt bestimmt alleine klar?«
Mit großer Mühe löste Erica den Blick vom Bildschirm, und es gelang ihr sogar, ein kleines Lächeln hervorzupressen. »Doch, doch, das geht ausgezeichnet.« Nach einer regelrechten Herkulesanstrengung brachte sie es obendrein fertig zu sagen: »Und tausend Dank für die Hilfe.«
Sie hoffte, daß Kristina nicht hörte, wie falsch das klang. Offenbar nicht, denn die Schwiegermutter nickte gnädig und erwiderte: »Es ist doch nur schön, wenn man helfen kann. Ich komme sicher bald wieder.«
Geh doch endlich, Weib, dachte Erica verzweifelt und versuchte die Schwiegermutter mit reiner Willenskraft aus der Tür zu treiben. Das schien wie durch ein Wunder zu funktionieren, und als die Tür hinter Kristina zuschlug, stieß Erica einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Aber die währte nicht lange. In der Stille nach Kristinas Abreise tauchten die Gedanken an Anna auf. Sie hatte die Schwester noch immer nicht erreicht, und Anna hatte sich auch nicht gemeldet. Frustriert wählte sie die Nummer von Annas Handy, aber wie in den letzten Wochen so oft konnte sie nur mit dem Anrufbeantworter sprechen. Sie hinterließ eine kurze Nachricht, zum wievielten Mal wußte sie nicht mehr, und legte dann auf. Warum ging die Schwester nicht ran? Erica begann einen Plan nach dem anderen zu entwerfen, wie sie herausfinden konnte, was mit der Schwester los war, aber alle brachen in sich zusammen, weil die große Müdigkeit sie wie üblich übermannte. Sie mußte es auf einen anderen Zeitpunkt verschieben.
Lucas sagte, er gehe eine Arbeit suchen, aber sie glaubte ihm keinen Augenblick, so schlampig gekleidet, unrasiert und ungekämmt er war. Sie hatte keine Ahnung, was er statt dessen tat. Anna wußte, daß sie nicht fragen durfte. Fragen waren schlecht. Fragen wurden bestraft. Auf Fragen folgten harte Schläge, die sichtbare Zeichen hinterließen. Vorige Woche hatte sie die Kinder nicht in den Kindergarten bringen können. Die Flecken in ihrem Gesicht waren so deutlich, daß sogar Lucas einsah, wie töricht es wäre, sie nach draußen zu lassen.
Ihre Gedanken kreisten ständig um die Frage, wie das enden sollte. Alles war so schnell den Bach hinuntergegangen, daß sich ihr der Kopf drehte. Die Zeit in der schönen Wohnung in Östermalm, als Lucas noch jeden Tag gut gekleidet, ruhig und beherrscht zu seiner Tätigkeit als Börsenmakler ging, erschien ihr wie ein ferner Traum. Sie konnte sich erinnern, daß sie auch damals fortgewollt hatte, aber jetzt fiel es ihr schwer, den Grund dafür zu verstehen. Verglichen mit diesem Dasein, konnte es wohl nicht so schlimm gewesen sein. Zwar hatte sie ab und zu ein paar Schläge erhalten, aber es gab auch gute Zeiten, und alles war so schön, so geordnet gewesen. Jetzt blickte sie sich in der kleinen Zweizimmerwohnung um und fühlte, wie die Hoffnungslosigkeit immer schwerer auf ihr lastete. Die Kinder schliefen im
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