Die Töchter der Lagune
immer in dieser unbequemen Stellung verharren. Glaubte er denn, Selim würde sein kriecherisches Benehmen nicht durchschauen? Er wusste ganz genau, dass ihn der Großwesir für seine Schwäche und sein Desinteresse an Staatsangelegenheiten verachtete. Allerdings war es ihm vollkommen gleichgültig. „Steh auf“, sagte er schließlich widerwillig und drehte den verzierten Goldpokal in seiner Hand hin und her, wobei sein Inhalt beinahe überschwappte.
Mohammed kämpfte sich auf die Beine. Von Tag zu Tag wurde es schwerer für den alten Mann, sich vor diesem unwürdigen Sprössling Süleymans des Prächtigen, seinem früheren Herrn und Gebieter, zu Boden zu werfen. „Der Rat ist versammelt, Sonne des Ostens“, sagte er gezwungen respektvoll und starrte auf den Saum seines Gewandes. Selim winkte wegwerfend ab. „Ich bin sicher, du kannst das ohne mich regeln, Mohammed.“ Er blickte den kleinen Mann mit zusammengekniffenen Augen an und wartete auf eine verräterische Reaktion. Wenn er nicht so nützlich wäre, hätte er ihn schon längst hinrichten lassen, da seine Anwesenheit ihn stets an seinen Vater erinnerte. Aber das wäre nicht klug gewesen. Immerhin konnte Selim sich durch ihn völlig von seinen offiziellen Aufgaben zurückziehen und seine wertvolle Zeit vielversprechenderen und lohnenderen Aktivitäten widmen. Er schürzte die Lippen und sagte kühl: „Du kannst gehen.“ Mohammed verneigte sich ehrerbietig – die Handflächen vor der Brust aneinandergepresst – und zog sich rückwärtsgehend zur Tür zurück, die von zwei ehrfurchtgebietenden Mitgliedern des Janitscharen Korps, der Leibgarde des Sultans, bewacht wurde. Als er aus Selims Blickfeld verschwunden war, seufzte dieser und setzte den Kelch an die Lippen. Er nahm einen tiefen Zug und genoss das Aroma des schweren zypriotischen Weines, der wie Öl seine Kehle hinabrann. Die Eroberung der Insel war eine gute Entscheidung gewesen.
Als er den Pokal geleert hatte, stellte er ihn achtlos neben seinem Diwan ab und erhob sich. Mit einem mächtigen Rülpser zog er die Schärpe, die sein mitternachtsblaues Gewand zusammenhielt, fest und klopfte sich den Bauch. Er wurde fett. Allerdings gab es nichts, was er dagegen unternehmen konnte. Sich des Essens und Trinkens zu enthalten stand außer Frage. Er hatte dieses Jahr nicht einmal den Ramadan eingehalten. Obgleich er außer dem Amt des Sultans auch den Titel des Kalifen, des obersten Führers des Islam, geerbt hatte, war er außerstande gewesen, von der Morgendämmerung bis zum Einbruch der Nacht zu fasten. Und das auch noch dreißig Tage lang! Das tägliche Beten des Korans war schon ermüdend genug gewesen, wer konnte da noch von ihm erwarten, zudem auch noch nichts zu essen und zu trinken? Er war froh gewesen, als vor drei Tagen schließlich mit dem Ramazan Bayrami , dem Ramadan Fest, das Ende des Fastenmonats begangen worden war. Ohne schlechtes Gewissen hatte er vorgegeben, ebenso erschöpft zu sein wie die anderen Mitglieder seines Haushaltes und Essen in sich hineingestopft, bis er schließlich befürchtet hatte, sein Magen würde platzen. Während er satt und zufrieden an seiner Wasserpfeife gepafft hatte, war ihm der vorwurfsvolle Blick seiner Mutter aufgefallen, den er respektlos grinsend erwidert hatte. Die Zeiten, als er noch Angst vor ihr hatte, waren längst vorbei. Er trat ans Fenster und schaute auf die kobaltblaue See hinunter. Kleine weiße Segel tanzten den Bosporus hinauf auf ihrem Weg vom Schwarzen Meer. Er lehnte sich ein wenig hinaus, um sein heißes Gesicht in der angenehmen Brise, welche die Zypressen sanft wiegte, kühlen zu lassen. Zwar war es nicht besonders warm an diesem Tag, aber der Wein hatte sein Blut erhitzt. Nachdem er einige Zeit lang so verharrt hatte, trat er von dem Fenster zurück und beschloss, sich ein wenig Zerstreuung zu verschaffen.
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Venedig, Lido di Venezia, Dezember 1570
Langsam, aber dennoch unaufhaltsam näherte sich ihre Gondel der voll betakelten Karavelle, die vor der Küste Anker geworfen hatte. Mit jedem Eintauchen der Ruderblätter wurde Elissa unruhiger und ihre Wangen vor Aufregung geröteter. Obwohl sie in der Perle der Meere – wie Venedig liebevoll von seinen Einwohnern genannt wurde – aufgewachsen war, hatte sie noch niemals zuvor ein derart großes Schiff betreten. Ihr Vater, ihre Mutter und einige der Bediensteten waren in der Gondel direkt vor ihr, und auch sie schien die Aussicht auf eine Seereise mehr
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