Die Töchter der Lagune
derjenige war, der sie tröstete; hatte doch er all die Grausamkeiten erdulden müssen.
Mit zunehmend fortgeschrittener Stunde hatten sich die Mitglieder ihres Haushaltes nach und nach zurückgezogen, bis nur noch ihr Vater, ihre Schwester, Christoforo und sie selbst im Raum zurückblieben. Der hell- und dunkelbraun karierte Parkettboden begann, vor ihren Augen zu verschwimmen, aber Desdemona wollte um nichts in der Welt den Mann verlassen, dessen Anwesenheit sie schwindelig machte. Sie war sich seines warmen, starken Körpers neben ihr intensiv bewusst, und es schockierte sie, dass sie – trotz der schrecklichen Geschichte, die er beinahe beendet hatte – begonnen hatte, ihn vor ihrem inneren Auge auszuziehen. Nur, um die furchtbaren Narben auf seinem Rücken und seinen Armen zu sehen! – Nein, das war nicht wahr. Sie wollte ihn berühren, wollte seine Haut unter ihren Fingerspitzen fühlen und herausfinden, ob er überall gleichermaßen sonnengebräunt war.
„Entschuldigung.“ Ihr Vater hatte sich mühsam aus seinem Sessel erhoben und etwas gesagt, doch sie hatte es nicht gehört. „Ich gehe jetzt zu Bett“, wiederholte der alte Mann, dessen Augen gerötet waren, und auf dessen Gesichtszügen sich die Müdigkeit deutlich abzeichnete. Angelina stand ebenfalls auf und täuschte ein Gähnen vor. „Ich bin auch müde“, verkündete sie mit einem spitzbübischen Blick in Desdemonas Richtung, die aufgesprungen war, als hätte man sie bei etwas Ungehörigem ertappt. „Dann werde ich mich verabschieden“, bot Christoforo Moro an. „Es tut mir leid, Euch so lange aufgehalten zu haben.“ Er hob seine Zimarra , das typisch venezianische, mantelähnliche Übergewand, das er über die Rückenlehne eines Stuhls geworfen hatte, auf und befestigte sie an seinem Wams. „Nein, nein.“ Signor Brabantio hob abwehrend die Hand. „Wenn Desdemona noch nicht müde ist, könnt Ihr mit Eurer Geschichte gerne noch fortfahren.“ Er sah seine Tochter fragend an, die bemüht war, eine ernste und unschuldige Miene zur Schau zu tragen. „Ja“, ermunterte sie den Gast. „Ich würde sehr gerne das Ende erfahren.“ Er hatte die Erzählung nicht zu Ende geführt, da ihn Desdemonas entsetzte Reaktion abgelenkt hatte. Christoforo sah von ihr zu ihrem Vater und wieder zurück, und als der alte Mann zustimmend nickte, löste er den Verschluss der Zimarra wieder und neigte den Kopf. „Ich wünsche Euch eine gute Nacht, Signore. Wir werden uns morgen weiter über die andere Angelegenheit unterhalten.“ Signor Brabantio nickte erschöpft und wandte sich der Tür zu, um den Raum zu verlassen. Angelina wünschte Christoforo mit einem spöttischen Knicks gute Nacht und feixte ihre Schwester an. „Gute Nacht. Ich wünsche euch angenehme Unterhaltung.“ Mit einem erstickten Kichern eilte sie ihrem Vater hinterher, der bereits die Treppe ins Obergeschoss erklomm. Sie bedeutete dem Diener mit dem Finger auf den Lippen, ihr leise zu folgen, wodurch die beiden Turteltauben allein im warmen Schein des Feuers zurückblieben. Sie gönnte Desdemona diese Gelegenheit. Sollte ihre vorbildliche Schwester nur einmal sehen, wie es war, den Kopf zu verlieren.
Als die schwere Eichentür hinter den anderen ins Schloss gefallen war, standen sich Christoforo und Desdemona einen Augenblick lang wortlos gegenüber. Dann jedoch, als ob er aus einem Traum erwacht sei, rührte Christoforo sich und trat vor den Kamin, wo er Desdemonas Hände in die seinen nahm. Wie groß und schwielig sie sich anfühlten! Sie blickte in seine braunen Augen, die so viel Leid und Tod gesehen hatten, doch deren Ausdruck im Moment voller Zärtlichkeit und Liebe war. Ihr Herz schlug wild, und ein unbeschreibliches Gefühl breitete sich in ihrer Magengrube aus und drohte, ihr die Luft zu nehmen. Eine Ewigkeit lang sah er sie einfach nur an, und tastete mit den Augen jeden Zoll ihres Gesichtes ab. Bis er ihre Hände schließlich losließ und mit dem Zeigefinger zart den Umriss ihrer Lippen nachzeichnete, die vor Erregung zitterten. Die Berührung seiner Hand jagte ihr einen Schauer über den Rücken, und sie spürte eine unbeschreibliche Hitze in sich aufsteigen. Langsam, beinahe zögerlich folgte er der Linie ihres Kinnes und ließ seinen Finger ihre Kehle hinunterwandern, bis er die Grenze ihres Ausschnittes erreichte. „Warte“, flüsterte sie und hielt die Bewegung auf. Sie führte seine Hand an die Lippen und küsste sie – alle Hemmungen wie plötzlich von ihr
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