Die Töchter der Lagune
August 1571
Der gequälte Schrei des Gefangenen neben ihm riss Marcantonio Bragadin in die Gegenwart zurück. Jago, der die Stadt auf einem der beiden letzten Schiffe hätte verlassen sollen, um dem Militärgericht in Venedig vorgeführt zu werden, war an den Schandpfahl neben ihm gekettet. Die Pranger waren zwischen der Kathedrale und dem Palazzo del Provveditore errichtet worden, doch die Gebäude verschwammen vor Marcantonios blutunterlaufenen Augen zu undeutlichen Umrissen. Als der grausame, krumme Dolch in einen weiteren Hautlappen schnitt, der langsam von seinem Fleisch abgelöst wurde, brüllte er vor Schmerzen. Sie wurden bei lebendigem Leib gehäutet! Wie lang würde er die unmenschlichen Qualen noch erdulden müssen?
Wie hatte es überhaupt so weit kommen können? Bis vor zwei Wochen war alles in bester Ordnung gewesen. Bis zu dem Tag, an dem die türkischen Soldaten – erzürnt darüber, dass man sie um ihre Beute betrogen hatte – die Stadt betreten und begonnen hatten, Gebäude niederzubrennen. Und die unglücklichen Frauen und Kinder zu schänden, die aufgrund des Versprechens, das der Aga ihnen gegeben hatte, beschlossen hatten zu bleiben. Am selben Abend noch war er aus der Stadt geritten, um den Pascha in seinem Pavillon aufzusuchen, wo sie mit ausgesuchter Höflichkeit empfangen wurden. Der osmanische Kommandant war höflich und verständnisvoll und versprach, die Übergriffe zu stoppen. Die Delegation war im Begriff, nach Famagusta zurückzukehren, als der Sultan in das Zelt gestürmt kam und begann, die Venezianer zu beschimpfen. Marcantonio hatte versucht, ruhig zu bleiben. Aber der betrunkene Herrscher hatte ihnen Beleidigungen entgegengeschleudert, die kein Mann ignorieren konnte. Er hatte etwas von einem Sohn gewütet, der von Bragadins Männern entführt worden war, und schließlich hatte einer von Bragadins Offizieren die Beherrschung verloren.
Das war das Ende gewesen. Die vierzehn Tage seit diesem Vorfall waren nichts als eine Abfolge furchtbarer Qualen. Als sein Henker den Dolch an Marcantonios Gesicht legte, verlor der Venezianer das Bewusstsein.
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Das Mittelmeer, an Bord eines osmanischen Schiffes, August 1571
Selim erwachte schweißgebadet – den glühenden Kopf in den üppigen Busen seiner Bettgefährtin gebettet. Was war los mit ihm? Feurig heißer und dennoch eiskalter Schmerz breitete sich mit furchterregender Geschwindigkeit von seinem linken Arm über den nackten Brustkorb aus. Er hatte die halbe Nacht gezecht und versucht, seine Wut und Trauer über den Verlust des Thronerben im Schoß einer zweitklassigen Konkubine zu vergessen. Was jedoch erfolglos geblieben war, da er seit Elissas Flucht ernsthafte Probleme hatte, den Liebesakt zu vollziehen. Lähmender Schwindel senkte sich über seine alkoholbenebelten Sinne. Und als er versuchte, sich mit einem Hilferuf von dem Körper der regelmäßig atmenden Sklavin zu lösen, gehorchten ihm seine Glieder nicht. Es war, als ob sein Verstand im Körper eines anderen gefangen wäre.
Deutlich vernahm er die sanften Wellen, die von außen gegen die dicken Bretter des Schiffsrumpfes klatschten, und der würzige Duft der Seeluft stach ihm befremdlich intensiv in die Nase. Heftig keuchend hob er die schweren Lider. Aber obgleich die Kabine von einem mehrarmigen Leuchter noch nicht ganz heruntergebrannter Kerzen schummrig erhellt wurde, nahm er nichts wahr als tanzende Finsternis. Ein stechender Schmerz erfüllte seine Brust, als sich eine eiserne Klaue um sein Herz zu legen schien, die langsam, aber sicher alles Leben aus ihm herauspresste. Eisige Furcht ergriff ihn, sobald die Erkenntnis, dass dies das Ende war, sein Bewusstsein erreichte.
Fakten und Fiktion
Da der genaue Zeitpunkt der Handlung von Shakespeares Tragödie heftig umstritten ist, habe ich nicht nur einige der Handlungsorte, sondern auch die Handlungsdauer in Der Mohr von Venedig um der dramatischen Handlung willen abgeändert und das Stück in einen plausiblen historischen Kontext eingeordnet. Dies hatte zur Folge, dass Montano, der in Shakespeares Tragödie den Gouverneur von Zypern darstellt, – eine Tatsache, die in sich selbst historisch inkorrekt ist, da jede Zitadelle über Rettori , Statthalter, oder Gouvernadori verfügte, die von einem Luogotenente angeführt wurden, welcher in Kriegszeiten durch einen Provveditore aus Venedig ersetzt wurde – durch Marcantonio Bragadin, den historisch verbrieften Gouverneur von
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