Die Töchter der Lagune
undurchdringliche Finsternis im Bauch des Schiffes hatte sie der beruhigenden Sicherheit beraubt, ob es Tag oder Nacht über der rauen See war. Sie hatte sich ebenso wie die anderen Sklaven, die in der stinkenden Zelle zusammengepfercht waren, beschmutzt, aber das war ihr inzwischen vollkommen gleichgültig. Das ununterbrochene Wimmern des kleinen Jungen neben ihr war verstummt, und als sein Kopf an ihre Schulter gesunken war, hatte sie müde die gefesselten Hände gehoben, um seinen Puls zu fühlen. Doch dieser hatte bereits aufgehört zu schlagen. Einen flüchtigen Moment lang hatte sie sich gewünscht, dass der barmherzige Gott, an den sie nicht mehr glauben konnte, ihr dasselbe Schicksal gewähren würde. Doch dann hatte sich der schwache Überrest ihres Lebenswillens, der irgendwo tief in ihrer wunden Seele geschlummert hatte, an die Oberfläche gekämpft und sie mit trotzigem Widerstand erfüllt. Sie würde sie nicht gewinnen lassen! Sie hatten ihr alles genommen – ihre Eltern, ihre Würde, ihr Leben – aber sie würde ihnen den Triumph, auch noch ihren Willen zu brechen, nicht gönnen!
Die Gefangenen wurden heftig hin und her geworfen – aufgefangen von den schweren Ketten – während der Sturm, der draußen tobte, mit dem großen Schiff spielte wie ein mutwilliges Kind. Der Gestank von Erbrochenem und überforderten Därmen schlug wie ein mächtiger Brecher über Elissa zusammen, und sie musste die bittere Galle hinunterwürgen, die in ihrer Kehle aufstieg. Nach scheinbar endlosen Stunden beruhigten sich die aufgewühlten Elemente schließlich, und das Schiff setzte seinen ruhigen Kurs fort, um sie an den Ort zu bringen, den das Schicksal für sie bereithielt. Sie war dankbar darum, dass die Kerkermeister ihnen seit der letzten Mahlzeit aus achtlos hingeworfenen Brotkanten und verfaulten Äpfeln nichts mehr zu essen gebracht hatten. Da es ihr ansonsten ebenso elend ergangen wäre wie den meisten ihrer Mitgefangenen.
Das Geräusch eines Schlüssels, der über das Eisen des Schlüsselloches kratzte, brachte die weinenden und stöhnenden Lumpenbündel zum Schweigen. Wenig später erschien eine hochgewachsene, Turban tragende Gestalt im Türrahmen, deren Umrisse von zwei hinter ihr stehenden Fackelträgern hervorgehoben wurden. Mit einer ungeduldigen Handbewegung bedeutete der Turbanträger einem Mann im Hintergrund, näher zu treten. Als Elissa den fetten Bauch und den glänzenden, haarlosen Schädel des Eunuchen, der sie erstanden hatte, erkannte, machte ihr Herz einen hoffnungsvollen Sprung. Nachdem er die Zelle einen Augenblick lang mit der Fackel ausgeleuchtet hatte, wies er auf Elissa und brummte etwas Unverständliches. Einer der Seemänner näherte sich ihr und befreite sie mit angeekelt gerümpfter Nase von ihren Ketten. „Steh auf!“, gebot er ihr, und zog sie ungeduldig auf die Beine, da er offenbar nicht versessen darauf war, länger als nötig in der übelriechenden Kabine zu verweilen. Sobald er sie jedoch losließ, gaben ihre Knie unter dem Gewicht ihres ausgemergelten Körpers nach und sie sackte in sich zusammen. „Steh auf!“, wiederholte der Mann erbost und trat ihr in die Rippen. „Nein, nein, nein“, ging der Eunuch aufgebracht dazwischen und zog ihn von ihrer zusammengekauerten Gestalt weg. Er fuchtelte mit seinen wulstigen Händen. Daraufhin gehorchten zwei Männer den Befehlen, die er in seiner merkwürdigen Falsettstimme rief, und hoben Elissa vom Boden auf. Sie fassten sie behutsam unter den Achseln und machten Anstalten, die Zelle zu verlassen, als einer der Wächter den erschlafften Körper des Knaben entdeckte, der an Elissa gefesselt gewesen war.
„Was los mit er?“, fragte er in demselben grauenhaften Italienisch, das sie alle zu sprechen schienen. Elissa schüttelte resigniert den Kopf. „Er ist tot.“ Ihre Stimme war heiser und kratzig von den ungezählten Tagen des lastenden Schweigens. Mit einer wegwerfenden Geste wies der Türke auf den Jungen und befahl einem untersetzten Mann, ihn von seinen Fußfesseln zu befreien und an Deck zu bringen. Nachdem sich der Seemann den toten Körper des Kindes über die Schulter geworfen hatte, steuerte die kleine Prozession auf die steilen Stufen zu, die in das dämmrige Licht des frühen Abends hinaufführten. Während sie sich fragte, warum sie von ihren Qualen erlöst worden war, stolperte Elissa von den starken Händen ihrer beiden Bewacher unterstützt aufwärts. Als sie die Planken, die noch nass waren von
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