Die Töchter der Lagune
dem Sturm, der sich erst vor Kurzem gelegt hatte, unter ihren Füßen spürte, sog sie gierig die frische Seeluft ein. „Komm.“ Der Eunuch ergriff ihren Arm und führte sie zu einer hell erleuchteten Kajüte auf dem Achterdeck. Bevor sie sich durch die niedrige Tür bückten, vernahm Elissa ein klatschendes Geräusch. Als sie sich umwandte, um in Erfahrung zu bringen, wo es herrührte, sah sie, wie der Mann, der die Leiche des Knaben getragen hatte, von der Reling zurücktrat.
„Komm“, wiederholte ihr fetter Befreier, dessen Atem nach Wein stank. Und kaum hatte sie die taghell erleuchtete Kabine betreten, musste Elissa einige Atemzüge lang die Augen schließen, um sie vor der ungewohnten Helligkeit zu schützen. Die vielen Tage, die sie in dem dunklen Gefängnis hatte zubringen müssen, hatten ihre Sinne einrosten lassen. „Ich bedaure zutiefst, dass du eine solch barbarische Behandlung über dich hast ergehen lassen müssen.“ Das schwammige Gesicht des Eunuchen war ein Bild der Zerknirschung. „Ich hatte ausdrücklich Anweisung gegeben, dich in eine Einzelzelle auf dem Unterdeck zu bringen. Der Bursche, der diesen Befehl nicht befolgt hat, ist aufs Strengste bestraft worden.“ Er hob die Schultern. „Ich habe erst heute Morgen herausgefunden, wo man dich hingesteckt hatte.“ Seine rosigen Wangen schwabbelten auf und nieder, während er eine Handvoll farbenfroher Gewänder aus einer Truhe zog. Neben einem Tisch, der mit köstlich duftenden Speisen auf silbernen Tellern gedeckt war, stand ein Waschzuber mit dampfendem Wasser, das über den Flammen eines Feuers erhitzt worden war. „Wir werden versuchen, dich wieder vorzeigbar zu machen, bevor wir Konstantinopel erreichen.“
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Das Mittelmeer, an Bord eines venezianischen Schiffes, Januar 1571
Rodrigo hätte sich vor Angst beinahe in die modischen Kniehosen gemacht, als ihr Schiff auf Grund gelaufen war. Ihrem erfahrenen Kapitän war es jedoch beinahe augenblicklich wieder gelungen, den Bug des Kriegsschiffes von dem tückischen Felsen zu befreien, ohne dabei den Bauch der Karavelle aufzuschlitzen. Der Schock saß dem jungen Venezianer immer noch in den Gliedern, da der plötzliche Ruck ihn fast von den Beinen gerissen hatte. Während er sich versonnen den falschen Bart strich, beobachtete er sowohl das geschäftige Treiben an Bord als auch die drei Damen, die wie er neugierig um sich blickten. Als sie bemerkt hatten, dass die Gefahr gebannt war, hatten sie schüchtern die Köpfe aus der Kabinentür gesteckt. Ihre schönen Gesichter waren immer noch weiß vor Schreck, allerdings plapperten sie bereits – auf die unergründbare Art der Frauen – wieder angeregt durcheinander und überwanden die Aufregung und Furcht, indem sie wiederholt die Gefühle beschrieben, die sie während des Augenblickes äußerster Gefahr empfunden hatten. Rodrigo würde niemals verstehen, wie Frauen dachten. Er kratzte sich am Kinn und heftete den Blick auf die Dame, die er so sehr begehrte, dass ihr Anblick ihm beinahe körperliche Pein verursachte. Ihre zarte Haut schien von der gnadenlosen Sonne unberührt, und die schlanken Finger, welche die Hand des Mädchens neben ihr umklammert hielten, zitterten leicht. Wer die andere wohl war? Er zermarterte sich fieberhaft das Gehirn und versuchte, sich daran zu erinnern, wo er sie schon einmal gesehen hatte. Obwohl sie die einfache Kleidung einer Zofe trug, schien sie mit der bleichen Schönheit, die er erobern wollte, gleichgestellt zu sein. Daran ließ die Vertrautheit, mit der sie einander behandelten, keinen Zweifel. Mit gerunzelter Stirn verfolgte Rodrigo das Geschehen noch eine Weile, ehe er sich versonnen abwandte und beschloss, mehr über das Mädchen in Erfahrung zu bringen. Man wusste schließlich nie. Vielleicht tat sich durch sie ja ein Weg auf, wie er Christoforo Moro die Braut wieder entreißen konnte!
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Zypern, ein offener Platz in der Nähe des Kais, Januar 1571
Marcantonio Bragadins langes, dunkles Haar flatterte in den starken Windböen. Er war zum Kai hinuntergegangen, um nach den Segeln der venezianischen Flotte Ausschau zu halten, die einer seiner Männer vom höchsten Turm der Zitadelle gesichtet hatte. Der aufgeregte Bote hatte wild in Richtung Südwesten gefuchtelt und die Entdeckung hervorgestammelt, dass mehrere Dutzend osmanischer Kriegsschiffe den Venezianern dicht auf den Fersen waren. Die türkischen Schiffe, die Rhodos umsegelt hatten, waren auf demselben
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