Die Töchter der Lagune
keine Piraten lauerten. Zu ihrer Linken glitt die felsige Küste vorbei, während vor ihnen unzählige winzige Inseln aus dem türkisfarbenen Meer aufragten. Während sie an die hölzerne Reling gelehnt dastand – die kleine, mit Sommersprossen übersäte Nase der salzigen Seeluft entgegengereckt – erinnerte Angelina sich an eine Legende, die sie während ihres Griechischunterrichts gehört hatte. Sie wandte sich an ihre Schwester und fragte: „War nicht Tänarum der Ort, an den Herkules ging, um den Eingang zur Unterwelt zu finden, damit er den Höllenhund fangen konnte?“ Desdemona nickte versonnen. Auch sie erinnerte sich an die Sage, die ihr Lehrer ihnen zum Übersetzen gegeben hatte.
„Ich denke, wir sollten besser unter Deck gehen“, mahnte Jagos Frau Emilia, die sich ihnen leise von hinten genähert hatte. Seitdem sie vor zwei Tagen herausgefunden hatte, wer Angelina war, quälte sie die Angst, dass ihr Gemahl es ebenfalls erfahren könnte. Obgleich sie schon mehr als die Hälfte der Strecke nach Zypern zurückgelegt hatten, hielt sie ihn für fähig, Angelina im nächsten Hafen an Land zu setzen und mit einer Eskorte nach Hause zu schicken. Sie war nicht viel älter als die beiden Schwestern, aber klein und rundlich. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von dunkelblondem Haar umrahmt, und das Auffallendste an ihr waren ihre großen, strahlend blauen Augen. Als ein ähnlich inoffizieller Teil des Regiments wie Desdemona hatte sie die Aufgabe übernommen, sich um die Braut des Vorgesetzten ihres Gatten zu kümmern. „Ach nein!“, protestierte Angelina. „Es ist so viel schöner hier oben!“ Sie wies mit dem Finger aufs offene Meer hinaus. „Seht nur dort drüben!“ Ungefähr zwanzig Fuß hinter ihrem Schiff war ein Schwarm Delphine aufgetaucht, deren geschmeidige, graue Körper im Licht der späten Nachmittagssonne glänzten, wann immer sie übermütig in die Luft sprangen. Sie schienen miteinander zu spielen, wobei sie in ihrer merkwürdig krächzenden Sprache miteinander plauderten.
Fasziniert sahen die jungen Frauen zu, wie die Tiere durch die raue See glitten. Wie elegant sie waren! Nach einigen Minuten verschwand die Sonne hinter dicken, finsteren Wolken und die drei begannen, im kalten Wind zu frösteln. „Emilia hat recht. Lass uns hineingehen“, sagte Desdemona und ergriff den Ärmel ihrer Schwester. „Komm schon, du wirst in den nächsten Tagen noch mehr als genug Delphine zu Gesicht bekommen!“ Murrend gehorchte Angelina. Sie duckten sich gerade durch die niedrige Tür ihrer Kajüte, als ein Alarm erscholl und ein gewaltiger Ruck das Schiff erschütterte. Bevor sich die drei Frauen, die durch die plötzliche Erschütterung zu Fall gebracht worden waren, von den harten Bohlen aufrappeln konnten, rannten schon Dutzende schreiender Männer auf den Bug zu. „ Capitano “, vernahm Angelina die heisere Stimme eines Soldaten. „Wir sind auf Grund gelaufen!“
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Das Mittelmeer, an Bord einer venezianischen Karavelle, Januar 1571
„Nicht dort! Hier drüben!“ Francesco ruderte wild mit den Armen, um dem Jungen anzuzeigen, wo er das Pulverfass abstellen sollte. Der kleine Kerl hatte mit dem Gewicht zu kämpfen, doch er war klug genug, das kleine, aber schwere Fässchen nicht zu tragen. Mit geschmeidigen Handgriffen schob und rollte er das Fass zu der Stelle, an der Francesco auf ihn wartete. Als er den Adjutanten erreicht hatte, wischte sich der Bursche mit dem Handrücken die Stirn und grinste breit. „Das Pulver läuft Gefahr, nass zu werden, wenn du es zu nahe an die Kanonen stellst“, belehrte Francesco den Knaben. „Platziere je eines davon neben den Kanonenkugeln“, befahl er. Sie waren auf der Höhe von Rhodos angelangt, und Christoforo Moro fürchtete, dass entweder die Osmanen oder ihre Verbündeten, die gefürchteten Korsaren der Barbareskenküste, einen Angriff auf ihre Flotte wagen könnten. Trotz des Risikos von Piratenüberfällen hatte der General beschlossen, die schnellere Route an der Südküste Kretas entlang zu wählen. Bis jetzt war das Glück ihnen hold, und ihre Passage war ungestört verlaufen. Die Sonne brannte von einem wolkenlosen, strahlend blauen Himmel, und die nackten Rücken der Seeleute begannen bereits, sich zu schälen. Francesco war froh darüber, dass er der Karavelle, auf der auch Christoforo Moro segelte, zugeteilt worden war, da er so die Gegenwart seines Vorgesetzten, Jago, meiden konnte.
Der Provveditore hatte ihm
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