Die Tore der Welt
Nähe von Lynn,
wo die Königin lebt … «
Godwyn spielte den
Entrüsteten und unterbrach ihn. »Was weiß ein Außenstehender schon von unserem
Besitz?« »Oh, ich habe das Dokument gelesen«, sagte Murdo. »Solche Dinge sind
nicht geheim.« Godwyn schaute zu Carlus und Simeon, die nebeneinandersaßen.
Beide Männer blickten überrascht drein. Als Subprior und Schatzmeister wussten
sie bereits davon. Nun mussten sie sich fragen, wie Murdo dieses Dokument in
die Hände bekommen haben könnte. Simeon öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
Murdo sagte: »Oder
zumindest sollten sie nicht geheim sein.«
Simeon schloss den
Mund wieder. Wollte er wissen, wie Murdo das herausgefunden hatte, würde er
sich die Frage stellen müssen, warum er selbst es geheim gehalten hatte.
Murdo fuhr fort:
»Und der Hof in Lynn ist der Priorei von … « Er legte eine dramatische Pause
ein. »… von Königin Isabella überschrieben worden«, schloss er.
Godwyn schaute sich
um. Die Mönche wirkten konsterniert. Nur Carlus‘ und Simeons Gesichter waren
wie versteinert.
Friar Murdo beugte
sich über den Tisch. Kräuter vom Eintopf klebten an seinen Zähnen. »Ich frage
dich noch einmal«, sagte er in aggressivem Tonfall: »Hast du deine Wunde im
Dienst von Königin Isabella erhalten?«
Thomas sagte:
»Jeder hier weiß, was ich getan habe, bevor ich Mönch geworden bin. Ich war
Ritter; ich habe in Schlachten gekämpft, und ich habe Menschen getötet. Ich
habe gebeichtet und Absolution erhalten.«
»Ein Mönch mag
seine Vergangenheit hinter sich lassen, doch der Prior von Kingsbridge trägt
eine größere Last auf seinen Schultern. Man könnte ihn fragen, wen er getötet
hat und warum und — am wichtigsten — welche Belohnung er dafür erhalten
hat.«
Thomas starrte
Murdo wortlos an. Godwyn versuchte, Thomas‘ Gesichtsausdruck zu deuten. Er war
wie erstarrt, aber was empfand er? Von Schuld oder Scham jedenfalls war nichts
zu sehen. Was immer es für ein Geheimnis sein mochte — Thomas hatte nicht das
Gefühl, etwas Schändliches getan zu haben. Nicht einmal Zorn war in seiner
Miene zu lesen. Murdos verächtlicher Tonfall hätte so manchen Mann zu einer
Handgreiflichkeit gereizt, doch Thomas machte nicht den Eindruck, als würde er
gleich zuschlagen. Nein, Thomas schien etwas vollkommen anderes zu empfinden:
kälter als Scham und ruhiger als Zorn. Schließlich erkannte Godwyn, dass es
Angst war. Ja, Thomas hatte Angst. Vor Murdo? Wohl kaum. Nein, er fürchtete,
dass etwas geschehen könnte, weil Murdo das Geheimnis entdeckt hatte.
Murdo wirkt jetzt
wie ein Hund, der einen Knochen gefunden hatte. »Wenn du die Frage nicht hier
in diesem Raum beantworten willst, wird sie an einem anderen Ort gestellt
werden.«
Godwyns
Berechnungen liefen darauf hinaus, dass Thomas an diesem Punkt aufgeben würde;
doch sicher war das nicht. Thomas war zäh. Zehn Jahre lang hatte er absolutes
Schweigen bewahrt, war geduldig und unverwüstlich gewesen. Als Godwyn ihm
vorgeschlagen hatte, als Prior zu kandidieren, musste er zu dem Schluss gekommen
sein, dass man die Vergangenheit endgültig begraben könne. Nun musste er
erkennen, dass er sich geirrt hatte. Aber wie würde er darauf reagieren? Würde
er seinen Fehler sehen und zurücktreten? Oder würde er die Zähne zusammenbeißen
und es durchstehen? Godwyn biss sich auf die Lippe und wartete.
Schließlich sprach
Thomas. »Ich denke, du könntest recht haben, dass die Frage anderswo gestellt
werden wird«, sagte er. »Zumindest glaube ich, dass du alles tun würdest, um
deine Vorhersage wahr zu machen.«
»Willst du damit
andeuten … «
»Du brauchst nichts
mehr zu sagen!«, unterbrach Thomas ihn und stand unvermittelt auf. Murdo
schreckte zurück. Thomas gelang dank seiner Größe, seiner kräftigen Gestalt und
seiner erhobenen Stimme tatsächlich das seltene Kunststück, den Friar zum
Schweigen zu bringen.
»Ich habe nie
Fragen über meine Vergangenheit beantwortet«, sagte Thomas. Seine Stimme war
nun wieder ruhig, und die Mönche schwiegen, um ihn hören zu können. »Und das
werde ich niemals tun.« Er deutete auf Murdo. »Aber diese … diese Schnecke
… lässt mich erkennen, dass solche Fragen nie enden würden, sollte ich Prior
werden. Ein Mönch mag seine Vergangenheit für sich behalten, doch bei einem
Prior ist das anders, wie ich nun erkennen muss. Ein Prior kann Feinde haben,
und ein Geheimnis ist eine Schwäche. Und durch
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