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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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ein.
    »Das sind schon
fünf. Dann ist da noch das Flämische.« Nur wenige Leute vermochten die Sprache
der Händler zu verstehen, die aus den Weberstädten Flanderns nach Kingsbridge
kamen: Ypern, Brügge und Gent.
    »Und Dänisch.«
    »Die Araber haben
auch eine eigene Sprache. Sie schreiben sogar mit anderen Buchstaben als wir.«
    »Und Mutter Cecilia
hat mir erzählt, dass auch die Barbaren — die Schotten, Waliser und Iren —
eigene Sprachen hätten, von denen niemand weiß, wie man sie überhaupt
niederschreiben kann. Das macht elf Sprachen. Und vielleicht gibt es ja Völker,
von denen wir noch nicht einmal etwas gehört haben!«
    Merthin grinste.
Von seinen gleichaltrigen Freunden verstand keiner, wie viel Spaß es machen
konnte, sich fremde Völker und deren Lebensweise vorzustellen. Nur mit Caris
konnte er in ferne Welten schweifen, was oft damit begann, dass Caris
irgendeine Frage stellte: »Wie lebt es sich wohl am Ende der Welt? Kann man beweisen,
dass Gott existiert? Woher weißt du, dass du im Augenblick nicht träumst?« Und
schon befanden sie sich auf einer Reise der Fantasie und versuchten, sich
gegenseitig mit den ungewöhnlichsten Gedanken zu übertrumpfen.
    Die lauten
Gespräche in der Kirche verstummten plötzlich, und Merthin sah, dass die Mönche
und Nonnen sich setzten. Der Chorleiter, der blinde Carlus, kam als Letzter
herein. Obwohl er nicht sehen konnte, ging er ohne Hilfe durch die Kirche und
die Klostergebäude. Zwar bewegte er sich langsam, jedoch so sicher und selbstbewusst
wie ein Sehender, denn er kannte hier jeden Stein.
    Nun gab er mit
seiner vollen, tiefen Stimme einen Ton vor, und der Chor stimmte ein Lied an.
    Merthin war ziemlich
misstrauisch, was die Geistlichkeit betraf.
    Priester verfügten
über eine Macht, die nicht immer ihrem Wissen entsprach — so ähnlich wie bei
seinem Lehrmeister Elfric. Trotzdem ging Merthin gern in die Kirche. Die
Gottesdienste versetzten ihn in eine Art Traumzustand. So auch diesmal: Die
Schönheit der Kathedrale und die Harmonie des Gesangs verzauberten ihn so sehr,
dass er mit offenen Augen zu schlafen glaubte — bis ihn erneut das wundersame
Gefühl überkam, das Regenwasser in Strömen unter seinen Füßen fließen zu
spüren.
    Merthin ließ den
Blick über die drei Ebenen des Hauptschiffs schweifen: Säulengang, Empore und
Obergaden. Die Säulen, die nichts anderes waren als aufeinandergestapelte
Steinblöcke, erweckten auf den ersten Blick einen ganz anderen Eindruck, denn
die Steine waren auf eine Weise behauen, dass jede Säule aus einem Bündel von
Schäften zu bestehen schien. Merthins Auge folgte dem Verlauf eines der
mächtigen Pfeiler der Vierung, vom riesigen quadratischen Sockel bis hinauf zu
der Stelle, wo sich einer der Schäfte nach Norden wandte, um einen Bogen über
dem Seitenschiff zu bilden, und weiter hinauf zum Zwischengeschoss, wo ein
anderer Schaft nach Westen abzweigte und die Empore überspannte, und noch
weiter hinauf bis zur Abzweigung des Bogens über dem Obergaden und zu den
letzten verbliebenen Schäften, die sich wie der Strahl eines Springbrunnens zu
den gekrümmten Rippen des Vierungsgewölbes auffächerten. Vom Schlussstein aus
wanderte Merthins Blick schließlich an einer anderen Rippe entlang zum gegenüber
liegenden Pfeiler.
    In diesem Moment
geschah etwas Merkwürdiges. Das Bild vor seinen Augen schien kurz zu
verschwimmen, und es hatte den Anschein, als würde die Ostseite des Querschiffs
sich bewegen.
    Ein leises Grollen
war zu hören, so tief, dass man es kaum vernehmen konnte, und der Boden
zitterte, als wäre in der Nähe ein Baum umgestürzt.
    Der Gesang stockte.
    Im Chor erschien
ein Riss in der Südwand, genau neben dem Pfeiler, auf den Merthin seinen Blick
gerichtet hatte.
    Er drehte sich zu
Caris um. Aus dem Augenwinkel heraus sah er Mauerwerk in den Chor und die
Vierung herabstürzen. Dann war da nur noch Lärm: Frauen schrien, Männer
brüllten, und alles wurde übertönt von dem ohrenbetäubenden Krachen riesiger
Steine, die zu Boden prasselten. Das Ganze währte nicht länger als drei, vier
Atemzüge. Als sich dann wieder Stille herabsenkte, stellte Merthin fest, dass
er Caris festhielt. Den linken Arm um ihre Schulter gelegt, hielt er sie an
sich gepresst, während er mit dem rechten Arm schützend ihren Kopf bedeckte und
sie mit seinem Körper von der Stelle abschirmte, wo ein Teil der großen Kirche
in Trümmern lag.
     
    Es war

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