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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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über den Marktplatz. Auf dem breiten Grün im Westen der
Kirche hatten Hunderte von Händlern ihre Stände aufgebaut, die nun zum Schutz
vor dem Regen mit geöltem Sackleinen oder Filz abgedeckt waren. Die Wollhändler
beherrschten das Bild: Es gab kleine fahrende Händler, die bloß die Erträge von
ein paar Dörflern verkauften, und es gab große Kaufherren wie Edmund, der ein
ganzes Lagerhaus voller Wollsäcke feilbot. Um sie her drängten sich weitere
Stände, an denen so gut wie alles zu bekommen war, was es für Geld zu kaufen
gab: Wein aus dem Rheinland, mit Goldfäden durchwirkter Seidenbrokat aus Lucca,
Glasschüsseln aus Venedig sowie Ingwer und Pfeffer aus Städten und Ländern im
Orient, deren Namen viele Leute nicht einmal aussprechen konnten. Und schließlich
waren da noch die Kleinhändler — Bäcker, Brauer und Zuckerbäcker, Wahrsager und
Huren —,. welche die Besitzer der Stände und deren Kunden mit allem
versorgten, was man zum Leben so brauchte.
    Tapfer trotzten die
Standbesitzer dem Regen. Sie scherzten miteinander und versuchten, für eine
fröhliche Stimmung zu sorgen wie an Fastnacht; doch so sehr sie sich bemühten,
das schlechte Wetter würde ihnen das Geschäft verderben. Einigen Leuten jedoch
blieb keine Wahl; sie mussten ihre Geschäfte tätigen, ob es regnete oder nicht:
Flämische und italienische Einkäufer brauchten weiche englische Wolle für die
geschäftigen Webereien in Brügge und Florenz. Gelegenheitskäufer indes blieben
bei diesem Wetter zu Hause:
    Die Frau des
Ritters sagte sich, dass sie auch ohne Muskat und Zimt aus käme, der
wohlhabende Bauer beschloss, seinen alten Mantel noch einen weiteren Winter zu
tragen, und der Advokat gelangte zu der Einsicht, dass seine Geliebte nicht
unbedingt noch einen weiteren goldenen Armreif brauchte.
    Merthin konnte
ohnehin nichts kaufen. Er hatte kein Geld. Er war ein unbezahlter Lehrling, der
bei Elfric Builder, seinem Meister, wohnte. Merthin aß am Familientisch mit,
schlief auf dem Küchenboden und trug Elfrics abgelegte Kleider, doch Lohn bekam
er nicht.
    An langen
Winterabenden schnitzte er kunstvolle Spielereien, die er für ein paar Pennys
verkaufte — ein Schmuckkästchen mit Geheimfächern oder ein Hähnchen, das die
Zunge raus streckte, wenn man ihm auf den Schwanz drückte —, doch im Sommer
hatte er nicht genug freie Zeit dafür, denn Handwerker arbeiteten von Sonnenaufgang
bis Sonnenuntergang.
    Aber Merthins
Lehrzeit war bald zu Ende. In weniger als sechs Monaten, am ersten Dezember,
würde er mit einundzwanzig Jahren ein vollwertiges Mitglied der
Zimmermannszunft von Kingsbridge werden. Er konnte es kaum erwarten.
    Die große Westtür
der Kathedrale stand offen, um die unzähligen Stadtbewohner und Besucher
einzulassen, die an der heutigen Messe teilnehmen wollten. Auch Merthin betrat
das Gotteshaus und schüttelte den Regen aus den Kleidern. Der Steinboden war
glitschig von Wasser und Schlamm. An einem schönen Tag erstrahlte das
Kircheninnere in dem vielfarbigen Licht, das durch die riesigen Buntglasfenster
herein fällt, doch an einem düsteren Tag wie diesem blieben die Fenster matt,
und die Menschen standen in ihren dunklen, nassen Kleidern da wie Schafe im
Regen.
    Wohin strömte die
Regenflut? Es gab keine Entwässerungsgräben um die Kirche herum. Das Wasser —
Tausende und Abertausende von Gallonen — versickerte in der Erde. Sickerte es
immer tiefer und tiefer, bis es erneut als Regen fiel, diesmal in den Abgründen
der Hölle? Aber nein: Die Kathedrale war an einen Hang gebaut. Das Wasser lief
unter der Erde von Nord nach Süd den Hügel hinunter, und die Fundamente der
Kirche waren so beschaffen, dass die Wassermassen hindurch fließen konnten, um
sich schließlich am südlichen Ende des Klostergeländes in den Fluss zu
ergießen.
    Merthin stellte
sich vor, dass er den unterirdischen Strom spüren konnte, sein Donnern und
Tosen, das durch die Grundmauern bis in den mit Steinplatten ausgelegten Boden
drang und ihn zittern ließ.
    Ein kleiner
schwarzer Hund lief schwanzwedelnd zu ihm und begrüßte ihn fröhlich. »Hallo,
Scrap«, sagte Merthin und streichelte das Tier. Als er den Blick wieder hob,
sah er die Besitzerin des Hundes, Caris, und sein Herz setzte einen Schlag aus.
    Sie trug einen
leuchtend scharlachroten Mantel, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Er war
der einzige Farbfleck in der Düsternis. Merthin lächelte breit; er freute

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