Die Tore der Welt
ein Wunder,
dass niemand zu Tode kam.
Die schlimmsten
Schäden hatte es im südlichen Seitenschiff des Chorbereichs gegeben, der während
des Gottesdienstes jedoch leer gewesen war. Die Gemeinde durfte den Chor
ohnehin nicht betreten, und der Klerus hatte sich in der Kirchenmitte
aufgehalten, im Binnenchor. Doch mehrere Mönche waren den herabstürzenden
Steinen nur um Haaresbreite entkommen, was zu den Wundergeschichten beitrug,
die man sich später erzählte; andere waren durch herumfliegende Steinsplitter
verletzt worden. Die Gemeinde hatte nicht mehr als ein paar Kratzer
davongetragen. Offensichtlich waren sie alle auf wundersame, unerforschliche
Weise vom heiligen Adolphus beschützt worden, dessen Gebeine unter dem
Hochaltar ruhten und der zu Lebzeiten eine Reihe von Wunderheilungen vollbracht
und Menschen vor dem sicher geglaubten Tod bewahrt hatte. Trotzdem war man sich
gemeinhin einig, dass Gott den Menschen von Kingsbridge eine Warnung hatte
zukommen lassen. Nur war nicht ganz klar, vor was er sie warnte.
Eine Stunde später
inspizierten vier Männer die Schäden. Zunächst war da Bruder Godwyn, der Vetter
von Caris, seines Zeichens Mesner und somit verantwortlich für die Kirche und
all ihre Schätze.
Dann kam Bruder
Thomas, der vor zehn Jahren noch Sir Thomas Langley gewesen war; nun war er als
Matricularius zuständig für sämtliche Bau- und Reparaturarbeiten. Dann war da
Elfric, der den Vertrag für die Instandhaltung der Kathedrale hatte — ein
ausgebildeter Zimmermann, der sich jedoch allgemein als Baumeister betätigte.
Und schließlich Merthin, Elfrics Lehrbursche.
Der Ostteil der
Kathedrale war von Säulen in vier Abschnitte unterteilt, die man Joche nannte.
Der Einsturz hatte jene beiden Joche betroffen, die der Vierung am nächsten
waren. Das Steingewölbe über dem südlichen Seitenschiff war im ersten Joch
völlig zerstört; im zweiten Joch gab es erhebliche Schäden. Risse durchzogen
die Empore, und im Hochchor waren Mittelpfosten aus den Fenstern gefallen.
Elfric sagte: »Eine
Schwäche im Mörtel hat das Gewölbe einstürzen lassen, und das wiederum hat die
Risse in den oberen Ebenen verursacht.«
Irgendwie wusste
Merthin, dass diese Erklärung falsch war, doch eine bessere wollte ihm auch
nicht einfallen.
Merthin hasste
seinen Meister. Zuerst war er bei Elfrics Vater Joachim in die Lehre gegangen,
einem erfahrenen Baumeister, der an Kirchen und Brücken in London und Paris
gearbeitet hatte. Dem alten Mann hatte es stets Freude bereitet, Merthin das
Wissen der Steinmetze zu vermitteln — das, was sie ihre »Mysterien« nannten und
wobei es sich vornehmlich um arithmetische Formeln handelte, zum Beispiel das
Verhältnis der Höhe eines Gebäudes zur Tiefe seiner Fundamente. Merthin liebte
Zahlen und hatte alles in sich aufgesogen, was Joachim ihn hatte lehren können.
Dann war Joachim
gestorben, und Elfric hatte den Betrieb übernommen. Elfric glaubte, dass
Gehorsam die wichtigste Tugend eines Lehrlings sei. Doch Merthin hatte mit dem
Gehorsam seine liebe Not, und so bestrafte Elfric ihn ständig mit knappen
Rationen, dünner Kleidung und Arbeit im Freien bei eisigem Wetter. Und um alles
noch schlimmer zu machen, war Elfrics rundliche Tochter Griselda, die genauso alt
war wie Merthin, gut genährt und stets warm gekleidet.
Vor drei Jahren war
Elfrics Frau gestorben, und er hatte Alice geheiratet, Caris‘ ältere Schwester.
Die Leute hielten Alice für die hübschere der beiden Schwestern, und das
stimmte auch, denn sie besaß die regelmäßigeren Züge; doch es mangelte ihr an
Caris‘ fesselnder Art, und Merthin empfand sie als farblos. Jedenfalls hatte er
die Hoffnung gehegt, dass sein Meister ihn nach der Heirat besser behandeln
würde, denn Alice hatte ihn, Merthin, immer gemocht; doch das genaue Gegenteil
war eingetreten. Alice schien zu glauben, dass es zu ihren ehelichen Pflichten
gehörte, nicht nur Elfric zu quälen, sondern seinen Lehrling gleich mit.
Merthin wusste,
dass viele andere Lehrlinge auf die gleiche Art litten, und alle fanden sich
damit ab, weil eine Lehre der einzige Weg in ein einträgliches Gewerbe war. Die
Handwerkszünfte hielten eisern den Daumen drauf, und niemand konnte in der
Stadt Geschäfte machen, ohne einer Zunft anzugehören. Selbst ein Priester, ein
Mönch oder eine Frau, die mit Wolle handeln oder Bier brauen wollten, musste
erst einer Zunft oder Gilde beitreten. Und außerhalb der
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