Die Tore der Welt
war und das Mauerwerk trug. Meist wurde zu diesem Zweck ein
Holzgerüst errichtet, das man Verschalung oder Wölbgerüst nannte und dessen
Krümmung der des Gewölbes entsprach.
Das war eine
anspruchsvolle Aufgabe für einen Zimmermann, denn die Krümmung des Gerüsts
musste exakt sein. Bruder Thomas kannte die Qualität von Merthins
Handwerkskunst, da er nun schon über Jahre hinweg die Arbeit beaufsichtigt hatte,
die Merthin und Elfric in der Kathedrale leisteten. Es war jedoch sehr taktlos
von Thomas, sich an den Lehrling und nicht an den Meister zu wenden, und so
sprudelte Elfric hastig hervor: »Unter meiner Aufsicht wird er das schon
hinkriegen!«
»Ja, ich kann eine
Verschalung bauen«, sagte Merthin, der bereits darüber nachdachte, wie der
Rahmen vom Gerüst gestützt werden musste und wo er am besten die Plattform
errichtete, auf der die Steinmetze arbeiten würden. »Allerdings sind diese
Gewölbe nicht mit einer Verschalung gebaut worden.«
»Red doch keinen
Unsinn, Junge«, sagte Elfric. »Natürlich sind sie das. Davon verstehst du
nichts.«
Merthin wusste,
dass es unklug wäre, sich mit seinem Meister anzulegen. Andererseits würde er
in sechs Monaten, als Geselle, mit Elfric in Wettstreit treten, und es war
wichtig für ihn, dass Leute wie Bruder Godwyn an seine Fähigkeiten glaubten.
Außerdem ärgerte ihn die Herablassung in Elfrics Stimme, und er verspürte das unwiderstehliche
Verlangen, seinen Meister des Irrtums zu überführen.
»Dann schaut Euch
doch die Bogenrücken an!«, sagte er entrüstet. »Bei einer Verschalung hätten
die Steinmetze das Wölbgerüst abgebaut, sobald sie mit einem Joch fertig waren,
und es beim nächsten wieder verwendet. Demzufolge müssten alle Gewölbe die
gleiche Krümmung aufweisen. So ist es aber nicht. Sie sind alle unterschiedlich.«
»Dann haben die
Steinmetze die Verschalung eben jedes Mal neu gebaut!«, sagte Elfric verärgert.
»Aber wieso?«
Merthin zeigte sich hartnäckig. »Sie haben doch sicher Holz sparen wollen, ganz
zu schweigen von den Löhnen für die Zimmerleute.«
»Wie dem auch sei
… jedenfalls ist es unmöglich, ein Gewölbe ohne Verschalung zu bauen.«
»Das stimmt nicht«,
entgegnete Merthin. »Es gibt eine Methode… « »Schluss jetzt!«, rief Elfric.
»Du bist hier, um zu lernen, nicht um uns zu belehren!« Godwyn warf ein: »Wenn
Ihr erlaubt, Meister Elfric … Falls der Junge recht hat, könnte es der
Priorei eine Menge Kosten ersparen.« Er schaute Merthin an. »Was wolltest du
sagen?«
Merthin wünschte
beinahe, er hätte das Thema gar nicht erst zur Sprache gebracht. Später würde
er einen verflucht hohen Preis dafür zahlen müssen. Nun aber gab es kein Zurück
mehr für ihn. Wenn er jetzt nachgab, würden die anderen glauben, er wüsste
nicht, wovon er sprach. »Es wird in einem Buch in der Klosterbibliothek beschrieben
und ist eigentlich recht einfach«, sagte er. »Wird ein Stein eingesetzt, legt
man ein Seil darum. Ein Ende des Seils wird dann an der Wand befestigt, das
andere mit einem Stück Holz beschwert, so — dass das Seil über der Kante des
Steins einen rechten Winkel bildet.
So hält es ihn
davon ab, aus seinem Mörtelbett zu rutschen und zu Boden zu fallen.«
Es folgte ein Augenblick des Schweigens,
als alle sich vorzustellen versuchten, wie das wohl aussah. Dann nickte Thomas.
»Das könnte funktionieren.«
Elfric funkelte
seinen Lehrling wild an.
Godwyn war
fasziniert. »In welchem Buch steht das?« »Es wird Timothys Buch genannt«,
antwortete Merthin.
»Ich kenne es, habe
es aber nie studiert. Offensichtlich sollte ich das nachholen.« Godwyn wandte
sich an die anderen. »Haben wir genug gesehen?«
Elfric und Thomas
nickten. Als die vier Männer das Dachgeschoss verließen, zischte Elfric seinem
Lehrling zu: »Ist dir eigentlich klar, dass du dich gerade um mehrere Wochen
Arbeit geredet hast? Ich möchte wetten, wenn du dein eigener Herr bist, tust du
das nicht mehr.«
Daran hatte Merthin
gar nicht gedacht. Elfric hatte recht: Indem er bewiesen hatte, dass ein
Wölbgerüst unnötig war, hatte er sich und Elfric um einen lukrativen Auftrag
gebracht. Doch Elfric wurde von Habgier geleitet. Es war unchristlich, jemanden
unnötig viel Geld ausgeben zu lassen, nur um selbst Arbeit zu haben. Merthin
jedenfalls wollte seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten, indem er andere übers
Ohr haute.
Sie stiegen die
Wendeltreppe in den Chor hinunter.
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