Die Tore der Welt
sich,
das Mädchen zu sehen. Es war schwer zu sagen, was sie so schön machte. Caris
hatte ein kleines, rundes Gesicht mit hübschen, regelmäßigen Zügen, mittelbraunes
Haar und grüne Augen mit goldenen Flecken. Sie war nicht viel anders als
hundert andere Kingsbridge-Mädchen auch, doch sie trug ihren Hut in keckem
Winkel, ein spöttisches Funkeln lag in ihren klugen Augen, und sie schaute
Merthin mit einem schelmischen Grinsen an, das unbestimmte, jedoch verlockende
Sinnesfreuden versprach. Merthin kannte sie jetzt schon zehn Jahre, doch erst
in den letzten Monaten war ihm bewusst geworden, dass er sie liebte.
Caris zog ihn
hinter eine Säule, küsste ihn auf den Mund und fuhr ihm dabei mit der
Zungenspitze leicht über die Lippen.
Sie küssten sich
bei jeder sich bietenden Gelegenheit: in der Kirche, auf dem Marktplatz, wenn
sie sich auf der Straße begegneten, und — am allerschönsten — bei Caris zu
Hause, wenn sie beide allein waren. Merthin lebte für diese Augenblicke. Jeden
Abend vor dem Einschlafen dachte er an ihre Küsse, und gleich nach dem Aufwachen
schon wieder.
Zwei-, dreimal die
Woche besuchte er Caris in ihrem Haus. Ihr Vater, Edmund, mochte Merthin, doch
ihre Tante Petronilla konnte ihn nicht leiden. Edmund war ein sehr gastlicher
Mann, und oft lud er Merthin ein, zum Abendessen zu bleiben. Merthin nahm stets
dankbar an, denn er wusste, dass es eine weit bessere Mahlzeit geben würde als
im Haus seines Lehrmeisters Elfric. Hinterher spielten Caris und Merthin Schach
oder Dame, oder sie saßen beieinander und redeten. Merthin liebte es, Caris
einfach nur anzuschauen, wenn sie eine Geschichte erzählte oder etwas erklärte.
Ihre Hände malten dann jedes Mal Bilder in die Luft, und auf ihrem Gesicht zeigte
sich Belustigung oder Staunen; jede Regung untermalte sie durch Gesten oder
durch ihr Mienenspiel. Aber die meiste Zeit wartete Merthin auf jene
Augenblicke, da er Caris einen Kuss rauben konnte.
Nun ließ er den
Blick durch die Kirche schweifen. Niemand schaute in ihre Richtung, und so ließ
er seine Hand in Caris‘ Mantel gleiten und berührte sie durch das weiche Leinen
ihres Kleides hindurch. Ihr Leib war warm. Merthin streichelte ihre Brust; sie
war klein und rund, und er liebte das Gefühl, wenn das zarte Fleisch dem Druck
seiner Fingerspitzen nachgab. Er hatte Caris noch nie nackt gesehen, doch ihr
Busen war ihm innig vertraut.
In seinen Träumen
ging er noch viel weiter: Dann waren sie irgendwo allein — auf einer Lichtung
im Wald oder in einem Gemach in einer Burg —, und sie waren beide nackt. Doch
seltsamerweise endeten seine Träume jedes Mal einen Augenblick zu früh, kurz
bevor er in sie eindrang, und er erwachte voll unbefriedigter Lust.
Eines Tages, sagte er sich dann immer,
eines Tages …
Von Heirat hatten
sie noch nicht gesprochen. Lehrlinge durften nicht heiraten; also musste er
warten. Caris hatte sich gewiss auch schon gefragt, was sie tun würden, wenn
seine Lehrzeit vorüber war; aber sie hatte diese Gedanken nie ausgesprochen.
Sie schien zufrieden damit zu sein, das Leben Tag für Tag so zu nehmen, wie es
kam. Und Merthin hatte eine abergläubische Furcht davor, mit Caris über ihre gemeinsame
Zukunft zu reden. Es hieß, dass Pilger nicht zu viel Zeit mit der Planung ihrer
Reise verbringen sollten, weil sie dann von so vielen Gefahren hörten, dass sie
beschlossen, das Pilgern lieber anderen zu überlassen.
Eine Nonne kam
vorbei, und schuldbewusst nahm Merthin die Hand von Caris‘ Busen. Aber die
Nonne sah gar nicht hin. Die Menschen taten alles Mögliche im riesigen Inneren
der Kathedrale. Vergangenes Jahr hatte Merthin ein Paar gesehen, das es an der
Wand des Südschiffs miteinander getrieben hatte, in der Dunkelheit der
Christmette; allerdings waren sie für diesen Frevel an die Luft gesetzt worden.
Merthin fragte sich, ob er und Caris während der ganzen Messe hierbleiben und
einander klammheimlich streicheln und begrapschen könnten.
Caris jedoch hatte
eine andere Idee. »Lass uns nach vorne gehen«, sagte sie. Sie nahm seine Hand
und führte ihn durch die Menge. Merthin kannte viele Leute hier, wenn auch
nicht alle: Mit ungefähr siebentausend Einwohnern war Kingsbridge eine der größeren
Städte in England — kein Ort, wo jeder jeden kannte. Merthin folgte Caris zur
Vierung, wo das Langhaus sich mit dem Querhaus kreuzte. Dort trafen sie auf
eine hölzerne Schranke, die den Zugang zum
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