Die Tore der Welt
sodass die Leute heutzutage zu beiden Seiten der Brücke durch
Schlamm stapfen mussten.
Caris sah, dass
Merthin die Konstruktion betrachtete. Sie kannte diesen Ausdruck in seinen
Augen: Er dachte darüber nach, was die Brücke aufrecht hielt. Caris hatte schon
oft gesehen, wie er etwas auf diese Weise studierte, für gewöhnlich in der
Kathedrale, manchmal aber auch ein Haus oder sogar Dinge in der Natur, einen
blühenden Weißdornbaum oder einen kreisenden Falken. Immer dann wurde er sehr
still, und sein Blick wurde hell und scharf, als hielte er ein Licht an einen
düsteren Ort, um herauszufinden, was sich dort verbarg. Als Caris ihn einmal
gefragt hatte, warum er so schaue, hatte er geantwortet: »Ich versuche, das
Innere der Dinge zu sehen.«
Nun folgte Caris
seinem Blick und fragte sich, was ihm an der alten Brücke aufgefallen war. Sie
maß sechzig Schritt von einem Ende zum anderen und war die längste Brücke, die
Caris je gesehen hatte.
Die Straßenbettung
wurde von massiven Eichenpfeilern getragen, die sich in zwei Reihen hinzogen
wie die Säulen zu beiden Seiten des Hauptschiffs der Kathedrale. Insgesamt
waren es fünf Pfeilerpaare. Die Endpfeiler, im Flachwasser, waren recht kurz, doch
die drei mittleren Paare ragten fünfzehn Fuß aus dem Wasser.
Jeder Pfeiler
bestand aus vier Eichenpfählen, die von hölzernen Klammern zusammengehalten
wurden. Einst hatte der König, so besagte die Legende, der Priorei von
Kingsbridge die vierundzwanzig besten Eichen in England gegeben, um daraus die
sechs Strompfeiler errichten zu lassen. Die oberen Enden waren durch Balken verbunden,
die sich in zwei parallelen Reihen über den Fluss spannten.
Kürzere Balken
bildeten die Querstreben und damit die Unterlage der Straßenbettung; darauf
wiederum hatte man Bohlen in Längsrichtung angebracht, welche die eigentliche
Straßenoberfläche bildeten. Überdies befand sich auf jeder Seite ein
Holzgeländer, eine eher zerbrechliche Brüstung. Tatsächlich brach alle Jahre
wieder ein betrunkener Bauer mit seinem Karren durch dieses Geländer und
ertrank mitsamt seinem Pferd im Fluss.
»Was schaust du dir
an?«, fragte Caris. »Die Risse.« »Ich sehe keine.« »Das Holz zu beiden Seiten
der Zentralpfeiler bricht auseinander. Man sieht deutlich, wo Elfric es mit
Eisenkrampen verstärkt hat.« Nun, da Merthin sie ihr zeigte, sah auch Caris die
schmalen Metallstreifen, die über die Risse genagelt worden waren. »Du siehst
besorgt aus«, sagte sie.
»Ich weiß nicht,
warum das Holz überhaupt gerissen ist.« »Ist das denn wichtig?«
»Natürlich.«
Merthin war an
diesem Morgen nicht sehr gesprächig. Caris wollte ihn gerade nach dem Grund
fragen, als er sagte: »Da kommt dein Vater.«
Caris schaute die
Straße hinauf. Die zwei Brüder waren ein seltsames Paar. Der große Anthony
hielt mit spitzen Fingern den Saum seiner Mönchsrobe hoch und stakste
vorsichtig um jede Pfütze herum. Ekel spiegelte sich auf seinem blassen
Schreibstubengesicht.
Edmund, der Ältere,
aber auch Energischere der beiden, hatte ein rotes Gesicht und einen zotteligen
grauen Bart. Im Gegensatz zu seinem Bruder achtete er nicht darauf, wo er ging,
sondern zog sein verkrüppeltes Bein durch den Schlamm und redete im Gehen
zornig auf Anthony ein und gestikulierte dabei mit den Armen. Wenn Caris ihren
Vater aus der Ferne sah, so wie ein Fremder ihn sehen könnte, wurde sie stets
von einer Woge der Liebe erfasst.
Der Streit war in
vollem Gange, als die Brüder die Brücke erreichten, und dort angekommen setzten
sie ihren Disput unvermindert fort. »Schau dir nur die Schlange an!«, rief
Edmund. »Hunderte von Leuten können keine Geschäfte machen, weil sie noch nicht
auf dem Markt sind! Und wer weiß, ob ihnen nicht ein Käufer oder Händler über
den Weg läuft, sodass sie ihre Geschäfte gleich an Ort und Stelle abschließen,
ohne die Stadt überhaupt je zu betreten!«
»Das verstößt gegen
das Gesetz«, erklärte Anthony.
»Du könntest ja zu
ihnen gehen und es ihnen sagen, nur kommst du nicht über die Brücke, weil sie
zu schmal ist! Hör zu, Anthony.
Wenn die Italiener
fortbleiben, wird der Wollmarkt sterben, doch unser beider Wohlstand hängt
davon ab, dass der Markt floriert! Wir dürfen ihn nicht einfach aufgeben!«
»Wir können
Buonaventura nicht zwingen, seine Geschäfte hier zu tätigen.«
»Aber wir können
unseren Markt attraktiver machen als den in Shiring. Wir müssen
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