Die Tore der Welt
Nordseite.
Merthin arbeitete
in der Vorhalle, einem saalähnlichen Raum, in dem oft Versammlungen abgehalten
wurden. Er hatte die Tür, an der er schnitzte, aufrecht in einen großen
Holzrahmen gestellt. Hinter seinem neuen Werk hing die gerissene, morsche alte
Tür noch immer an Ort und Stelle im Portal. Merthin stand mit dem Rücken zu
Caris, sodass das Licht über seine Schulter auf das Holz vor ihm fiel. Er sah
sie nicht, und das Prasseln des Regens übertönte ihre Schritte, sodass Caris
ihn ein paar Augenblicke lang unbemerkt beobachten konnte, während seine
schmalen Hände sich geschickt über die Schnitzerei bewegten und mit einem dünnen
Messer feine Späne herausschälten.
Merthin war klein,
nicht viel größer als sie selbst. Auf seinem drahtigen, weißhäutigen Leib saß
ein großer Kopf mit struppigem rotem Haar. »Hübsch ist der aber nicht!«, hatte
Alice einmal gesagt und dabei den Mund verzogen, als Caris ihr gestanden hatte,
dass sie sich in Merthin verliebt hatte. Es stimmte, dass Merthin nicht so
schneidig aussah wie sein Bruder Ralph, doch Caris faszinierte vor allem sein
Gesicht: unregelmäßig und schrullig, klug und voller Lachen — so wie der ganze
Mann.
»Hallo«, sagte sie,
und Merthin fuhr zusammen. Caris lachte.
»Das kenne ich ja
gar nicht von dir, dass du dich so leicht erschrecken lässt.«
»Puh. Es ist dir
aber gelungen.« Er zögerte kurz, dann küsste er sie. Er wirkte ein wenig tölpelhaft,
aber das kam immer wieder vor, wenn er sich auf seine Arbeit konzentrierte.
Caris betrachtete
die Schnitzereien. Auf jeder Seite der Tür befanden sich je fünf Jungfrauen:
Die klugen hielten Festmahl auf einer Hochzeit, die törichten standen draußen
und hielten Lampen verkehrt herum zum Zeichen, dass kein Öl mehr darin war. Merthin
hatte die Schnitzereien der alten Tür kopiert, jedoch mit subtilen
Veränderungen. Die Jungfrauen standen in Reihen, fünf auf der einen und fünf
auf der anderen Seite, wie die Bögen in der Kathedrale, doch auf der neuen Tür
waren sie nicht exakt gleich.
Merthin hatte jedem
Mädchen etwas Persönliches verliehen. Eine war hübsch, eine andere hatte
lockiges Haar, eine weinte, und wieder eine zwinkerte schelmisch. Merthin hatte
sie lebensecht gemacht; die Szene auf der alten Tür wirkte im Vergleich dazu
steif und leblos. »Das ist wunderbar«, sagte Caris. »Aber ich frage mich, wie
die Mönche wohl darüber denken werden.«
»Bruder Thomas
gefällt es«, erwiderte Merthin.
»Was ist mit Prior
Anthony?«
»Er hat‘s noch
nicht gesehen, aber er wird‘s schon hinnehmen.
Er wird wohl kaum
zweimal dafür bezahlen wollen.«
Das stimmt, dachte
Caris. Ihr Onkel Anthony war nicht gerade aufgeschlossen für Neuerungen, aber
geizig. Die Erwähnung des Priors erinnerte Caris an ihren Auftrag. »Mein Vater
möchte sich mit dir und dem Prior an der Brücke treffen.«
»Hat er gesagt
warum?«
»Ich glaube, er
will Anthony bitten, eine neue Brücke zu bauen.«
Merthin legte seine
Werkzeuge in eine Ledertasche und wischte rasch Späne und Staub vom Boden. Dann
gingen Caris und er im Regen über den Markt und die Hauptstraße hinunter zu der
hölzernen Brücke. Dabei erzählte Caris ihm, was Buonaventura am Frühstückstisch
über den Wollmarkt gesagt hatte. Merthin hatte den gleichen Eindruck. Auch er
fand, dass es auf den Märkten der letzten Jahre nicht mehr so geschäftig
zugegangen war wie zu ihrer beider Kindheit.
Trotzdem wartete
eine lange Schlange von Menschen und Karren darauf, nach Kingsbridge
eingelassen zu werden. Am stadtseitigen Ende der Brücke stand ein kleines
Torhaus, wo ein Mönch jedem Händler, der Waren mit sich führte, einen Penny
Zoll für den Zutritt zur Stadt abverlangte. Die Brücke war schmal, sodass
niemand die Schlange umgehen konnte; deshalb mussten auch Leute, die nicht zu
bezahlen brauchten — größtenteils Stadtbewohner —, sich einreihen und warten.
Dazu kam, dass einige der Bohlen verzogen oder gebrochen waren, und Karren
kamen nur langsam voran. So zog die Schlange sich bis zu den Schuppen und
Hütten der Vorstadt hin und verschwand schließlich im Regendunst.
Außerdem war die
Brücke zu kurz. Einst hatte sie an beiden Ufern auf trockenem Land gemündet.
Nun jedoch war der Fluss entweder breiter geworden, oder — was wahrscheinlicher
war — die unzähligen Menschen und Karren hatten die Ufer im Laufe der Jahrzehnte
und Jahrhunderte
abgeflacht,
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