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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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voller Karren und Menschen, die zum Markt drängten und dabei durch Matsch
und Pfützen stapften.
    Caris war begierig
darauf, Merthin zu sehen — wie immer. Sie mochte ihn schon seit Allerheiligen
vor zehn Jahren, als er mit seinem selbst gemachten Bogen bei der Schießübung
erschienen war.
    Er war klug und
hatte Humor. Wie sie selbst wusste auch er, dass die Welt ein viel größerer und
faszinierenderer Ort war, als die meisten Einwohner von Kingsbridge es sich
vorzustellen vermochten. Sie waren die besten Freunde. Doch vor sechs Monaten
hatten sie etwas entdeckt, das über bloße Freundschaft hinausging und auch viel
mehr Spaß machte.
    Caris hatte vor
Merthin schon Jungen geküsst, wenn auch nicht oft. Sie hatte nie wirklich einen
Sinn darin gesehen. Bei Merthin aber war es etwas anderes; mit ihm war es
aufregend, sogar ein bisschen sündhaft. Es gefiel Caris, wenn er ihren Körper
berührte.
    Sie wollte noch
mehr tun — doch sie wagte nicht, auch nur darüber nachzudenken. »Mehr«
bedeutete Heirat, und Heirat bedeutete, dass man Ehefrau wurde, und eine
Ehefrau musste sich ihrem Mann unterwerfen, denn er war der Herr — und diese
Vorstellung war Caris zuwider. Zum Glück hatte sie bis jetzt nicht über all das
nachdenken müssen, denn Merthin konnte erst heiraten, wenn er seinen
Gesellenbrief hatte, und bis dahin würde noch ein halbes Jahr vergehen.
    Caris erreichte
Elfrics Haus und trat ein. Ihre Schwester Alice saß mit ihrer Stieftochter
Griselda in der vorderen Stube am Tisch.
    Sie aßen Brot mit
Honig. In den drei Jahren, die Alice mit Elfric verheiratet war, hatte sie sich
sehr verändert. Sie war schon immer eine Zicke gewesen — genau wie Petronilla —, doch unter dem Einfluss ihres Gemahls war sie noch misstrauischer, reizbarer
und kleinlicher geworden.
    Heute jedoch war
sie ziemlich guter Laune. »Setz dich, Schwester«, sagte sie. »Das Brot ist
frisch heute Morgen.«
    »Ich kann nicht.
Ich bin auf der Suche nach Merthin.« Alice schaute sie missbilligend an. »So
früh?« »Vater will ihn sehen.« Caris ging durch die Küche zur Hintertür und
schaute in den Hof. Regen fiel auf die trostlose Landschaft aus Baumaterial.
Einer von Elfrics Arbeitern legte Steine in eine Schubkarre. Von Merthin war
keine Spur zu sehen. Caris ging wieder ins Haus.
    Alice sagte:
»Wahrscheinlich ist er in der Kathedrale. Er schnitzt eine Tür.« Caris
erinnerte sich, dass Merthin erwähnt hatte, die Tür des Nordportals sei
verrottet und dass er an einer neuen Tür arbeite.
    Griselda fügte
hinzu: »Er hat Jungfrauen geschnitzt.« Sie grinste und schob sich Honigbrot in
den Mund.
    Das wusste Caris
auch. Die Schnitzereien an der Tür stellten das Gleichnis dar, das Jesus den
Jüngern auf dem Ölberg erzählt hatte, von den zehn klugen und törichten
Jungfrauen, und Merthin sollte neue Jungfern schnitzen. Doch Griseldas Grinsen,
als sie »Jungfrauen« gesagt hatte, war schmierig gewesen und voller Spott, als
wolle sie Caris verhöhnen, dass sie noch Jungfrau war.
    Doch Caris ging
nicht darauf ein. »Dann versuch ich´s in der Kathedrale«, sagte sie, winkte
flüchtig und verschwand.
    Sie schlenderte die
Hauptstraße hinauf. Als sie zwischen den Marktständen hindurch zu der großen
Kirche ging und den Blick schweifen ließ, überkam sie ein Gefühl von Zerfall
und Auflösung.
    Hatte Buonaventura
recht, dass der Markt in Kingsbridge im Niedergang begriffen war? Tatsächlich
waren die Wollmärkte in Caris‘ Kindheit größer, geschäftiger und bunter gewesen.
Damals hatte das Klostergelände nicht ausgereicht, den ganzen Markt aufzunehmen,
und Stände ohne Lizenz — oft nur ein kleiner Tisch voller Tand — hatten die
Straßen im ganzen Umkreis verstopft. Und wo waren all die Hausierer mit ihren
Bauchläden geblieben, die Gaukler und Bettler, die Musikanten und die umher ziehenden
Brüder, die Sünder zur Buße aufriefen? Jetzt kam es Caris so vor, als wäre auch
im Kloster noch Platz für ein paar mehr Stände.
    »Buonaventura hat
recht«, murmelte sie vor sich hin. »Der Markt wird immer kleiner.« Ein Händler
schaute sie befremdet an, und Caris erkannte, dass sie wieder einmal laut
gedacht hatte, eine schlechte Angewohnheit von ihr, denn die Leute glaubten,
sie würde mit Geistern reden. Zwar ermahnte Caris sich immer wieder, diese
Unart abzulegen, doch manchmal vergaß sie es, besonders wenn sie unruhig war.
    Caris ging um die
große Kirche herum zur

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