Die Tore der Welt
groß oder klein, eine böse Macht stand. Caris hatte
soeben die Unterstützung der Menge verloren.
Prior Anthony, ihr
Onkel, kannte ihre Ansichten, und er hatte sich früher schon mit ihr
gestritten. Nun beugte er sich vor und sagte: »Du glaubst doch nicht, dass Gott
für all die Krankheiten, das Unglück und die Verluste verantwortlich ist,
oder?«
»Nein … «
»Wer dann?«
Caris ahmte den
hochmütigen Tonfall ihres Onkels nach. »Du glaubst doch nicht, dass jedes
Unglück im Leben die Schuld von Gott oder der verrückten Neil ist, oder?«
Erzdiakon Lloyd
ermahnte sie in scharfem Tonfall: »Sprich respektvoll mit dem Prior!« Er wusste
nicht, dass Anthony Caris‘ Onkel war. Die Bürger lachten. Sie kannten den
hochnäsigen Prior und seine trotzköpfige Nichte.
Caris beendete ihre
Ausführungen. »Ich glaube, dass Neil harmlos ist. Verrückt, ja, aber harmlos.«
Da sprang Friar
Murdo auf. »Mein Herr Bischof, Männer von Kingsbridge, Freunde«, sagte er mit
seiner sonoren Stimme. »Der Herr des Bösen ist überall unter uns und verführt
uns zur Sünde — zum Lügen und zur Völlerei, zur Hurerei und Trunksucht, zum
Stolz und zur Fleischeslust!« Den Leuten gefiel das: Murdos Beschreibungen der
Sünde beschworen wohlige Bilder des Genusses herauf, die durch seine schwefelige
Missbilligung geheiligt wurden. »Aber er darf nicht unbeobachtet bleiben«, fuhr
Murdo fort und hob erregt die Stimme. »So, wie das Pferd seine Huf abdrücke im
Schlamm hinterlässt, wie die Küchenmaus winzige Spuren auf der Butter macht,
wie der Lüsterne seine üble Saat im Leib der getäuschten Jungfer ausbringt, so
muss auch der Teufel sein Zeichen hinterlassen!«
Die Leute grölten
ihre Zustimmung. Sie wussten, was er meinte.
»Die Diener der
gehörnten Bestie sollen an dem Zeichen erkannt werden, das sie auf ihnen
hinterlässt! Denn er, der Herr des Bösen, saugt ihnen ihr heißes Blut aus wie
ein Kind die süße Milch aus dem vollen Busen der Mutter. Und wie das Kind, so
braucht auch er eine Zitze, aus der er saugen kann — einen dritten Nippel!«
Damit hatte er sein
Publikum fasziniert, bemerkte Caris. Murdo begann jeden Satz mit tiefer, leiser
Stimme und baute dann eine Phrase auf die andere, bis zum emotionalen
Höhepunkt. Und die Menge reagierte mit Leidenschaft darauf. Schweigend
lauschten sie, während Murdo sprach, und bekundeten am Ende lautstark ihre
Zustimmung.
»Dieses Zeichen ist
von dunkler Farbe und erhebt sich von der reinen Haut, die es umgibt. Es kann
sich auf jedem Teil des Körpers befinden. Manchmal liegt es im sanften Tal
zwischen den Brüsten eines Weibes, wo das unnatürliche Ding das Natürliche
nachahmt.
Doch dem
geifernden, geilen Satan gefällt es besonders, es an den geheimen Stellen des
Leibes zu verstecken, besonders an den Lenden … «
Bischof Richard
sagte laut: »Ich danke Euch, Friar Murdo, Ihr müsst nicht weiterreden. Ihr
verlangt, dass der Leib dieses Weibes nach einem Teufelsmal abgesucht werde.«
»Ja, mein Herr
Bischof, denn an besagten Stellen … « »Einverstanden. Zu weiterer Diskussion
besteht kein Anlass. Ihr habt Eure Gedanken klar und deutlich dargelegt.«
Richard schaute sich um.
»Ist Mutter Cecilia
in der Nähe?« Die Priorin saß auf einer Seite des Gerichts neben Schwester
Juliana und einigen älteren Nonnen auf einer Bank. Männer durften den nackten
Leib der verrückten Neil nicht untersuchen; dies mussten Frauen in
abgeschlossenen Räumlichkeiten tun und dann Bericht erstatten. Die Nonnen
stellten die offensichtliche Wahl dafür dar.
Caris beneidete sie
nicht um diese Aufgabe. Die meisten Stadtbewohner wuschen sich jeden Tag Hände
und Gesicht und die stark riechenden Teile des Körpers einmal in der Woche. Ein
richtiges Bad nahm man höchstens zwei Mal im Jahr; es war schlicht notwendig,
wenn auch gefährlich für die Gesundheit. Die verrückte Neil jedoch schien sich
überhaupt nie zu waschen. Ihr Gesicht war ebenso verdreckt wie ihre Hände, und
sie stank wie ein Misthaufen.
Cecilia stand auf.
Richard sagte: »Bitte, bringt diese Frau in ein Privatgemach, entfernt ihre
Kleider, und untersucht sorgfältig ihren Körper. Dann kommt zurück, und
erstattet uns aufrichtig Bericht.«
Die Nonnen erhoben
sich sofort und gingen zu Neil. Cecilia redete tröstend auf das verrückte Weib
ein und ergriff es sanft am Arm.
Doch Neil ließ sich
nicht täuschen. Sie entwand sich dem Griff und warf die Arme hoch
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