Die Tore der Welt
erreichte
die Straße. Für eine Frau ohne Begleitung war die Straße in freiem Gelände fast
genauso gefährlich wie ein Waldweg. Tarn Hidings Bande war nicht die einzige
Gruppe von Geächteten, und es gab noch Heerscharen anderer Männer — Knappen,
Bauernburschen, Soldatentrupps —, die eine wehrlose Frau missbrauchen könnten.
Doch Gwendas erstes Ziel war, so schnell wie möglich von Sim und seinen
Kumpanen wegzukommen.
Welche Richtung
sollte sie einschlagen? Wenn sie nach Wigleigh ging, würde Sim ihr vermutlich
folgen und sie zurück verlangen — und niemand vermochte zu sagen, wie ihr Vater
damit umgehen würde.
Gwenda brauchte
Freunde, denen sie vertrauen konnte. Caris würde ihr helfen.
Sie machte sich auf
den Weg nach Kingsbridge.
Es war ein klarer
Tag, doch die Straße war von den langen, ergiebigen Regengüssen verschlammt,
und entsprechend schwer war das Vorankommen. Nach einer Weile erreichte Gwenda
die Kuppe eines Hügels. Als sie zurückschaute, konnte sie die Straße gut eine
Meile überblicken. Am äußersten Rand ihres Sichtfeldes sah sie eine einsame
Gestalt. Sie trug einen gelben Kittel.
Sim Chapman.
Gwenda rannte los.
Der Fall der
verrückten Neil wurde am Samstagmittag im nördlichen Querschiff der Kathedrale
verhandelt. Bischof Richard saß dem Kirchengericht vor, mit Prior Anthony zu
seiner Linken und seinem Ratgeber, Erzdiakon Lloyd, zur Rechten, einem
säuerlich dreinblikkenden schwarzhaarigen Priester, dem man nachsagte, dass er
die eigentliche Arbeit im Bistum erledige.
Eine große Zahl von
Bürgern hatte sich versammelt. Ein Prozess wegen Ketzerei bot gute
Unterhaltung, und in Kingsbridge hatte es schon seit Jahren keinen solchen
Prozess mehr gegeben. Viele Handwerker und Arbeiter legten überdies samstags
die Arbeit schon zu Mittag nieder. Draußen näherte der Wollmarkt sich seinem
Ende.
Händler bauten ihre Stände ab und packten
die unverkaufte Ware zusammen, und die Käufer bereiteten sich auf die Heimreise
vor oder verluden ihre Güter auf Flussschiffe, um sie in den Seehafen von
Melcombe zu schaffen.
Während Caris auf
den Beginn des Prozesses wartete, dachte sie traurig an Gwenda. Was tat sie im
Augenblick wohl gerade? Sim Chapman würde sie bestimmt zwingen, ihm
beizuliegen; aber das war vielleicht nicht einmal das Schlimmste, das ihr
widerfahren würde. Was würde sie sonst noch als seine Sklavin tun müssen?
Caris hegte keinen
Zweifel daran, dass Gwenda alles daransetzen würde zu fliehen — aber würde es
ihr auch gelingen? Und wenn ihr Versuch scheiterte, wie würde Sim sie dann bestrafen?
Caris kam zu der Erkenntnis, dass sie das wohl nie herausfinden würde.
Es war eine
seltsame Woche gewesen. Buonaventura Caroli hatte seine Meinung nicht geändert:
Die florentinischen Einkäufer würden nicht mehr nach Kingsbridge zurückkehren — jedenfalls nicht, solange die Priorei keine entsprechenden Umbaumaßnahmen für
den Wollmarkt einleitete. Caris‘ Vater und die anderen führenden Wollhändler
hatten die halbe Woche in Klausur mit Graf Roland verbracht. Merthin war noch
immer in sich gekehrt und mürrisch.
Und es regnete
wieder.
Neil wurde von John
Constable und Friar Murdo in die Kirche gezerrt. Als einziges Kleidungsstück
trug sie einen ärmellosen Überwurf, der ihre knochigen Schultern entblößte. Sie
hatte weder Hut noch Schuhe. Schwach wehrte sie sich gegen den Griff der
Männer, fluchte aber umso heftiger.
Nachdem man sie zum
Schweigen gebracht hatte, trat eine Reihe von Bürgern vor, um zu bezeugen, sie
hätten gehört, wie Neil den Teufel angerufen habe. Sie sagten die Wahrheit.
Neil drohte den Leuten ständig mit dem Teufel: weil sie ihr ein Almosen
verweigerten, weil sie ihr im Weg standen, weil sie einen feinen Mantel trugen — oder einfach nur so.
Jeder Zeuge
berichtete von irgendeinem Unglück, das ihn nach Neils Fluch befallen habe. Die
Frau eines Goldschmieds hatte eine kostbare Brosche verloren, die Hühner eines
Gastwirts waren verendet, und eine Witwe hatte ein schmerzhaftes Geschwür am Hintern
bekommen — eine Beschwerde, die lautes Lachen hervorrief, aber auch sehr
überzeugend war, denn Hexen waren für ihren bösartigen Humor bekannt.
Während es so
weiterging, erschien Merthin neben Caris. »Wie dumm das alles ist«, sagte Caris
empört. »Zehnmal so viele Zeugen könnten vortreten und erklären, dass Neil sie
verflucht hat, ohne dass etwas passiert ist.«
Merthin
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