Die Tore der Welt
Handteller jedoch weich. Trotz allem,
was geschehen war, durchlief Gwenda ein wohliger Schauder.
Sie führte Wulfric
über den Vorplatz und in die Kathedrale.
»Merthin, Caris und
ein paar andere ziehen Leute aus dem Fluss und bringen sie hierher«, erklärte
sie.
Bereits zwanzig
oder dreißig Menschen lagen auf dem Steinboden des Hauptschiffs, und ständig
kamen neue hinzu. Eine Handvoll Nonnen kümmerte sich um die Verletzten. Vor den
mächtigen Säulen der Kathedrale wirkten sie geradezu winzig. Der blinde Mönch,
der normalerweise den Chor leitete, schien das Kommando zu haben. »Bringt die
Toten zur Nordseite«, rief er, als Gwenda und Wulfric das Hauptschiff betraten.
»Die Verletzten nach Süden.«
Plötzlich stieß
Wulfric einen entsetzten Schrei aus. Gwenda folgte seinem Blick und sah David,
Wulfrics Bruder, unter den Verletzten. Beide knieten sich neben ihn auf den
Boden. David war ein paar Jahre älter als Wulfric und von ebenso großer
Gestalt. Er atmete, und seine Augen waren geöffnet, doch er schien sie nicht zu
sehen.
Wulfric sprach zu
ihm. »Dave!«, sagte er mit leiser, drängender Stimme. »Dave, ich bin es,
Wulfric.«
Gwenda spürte etwas
Klebriges und erkannte, dass David in einer Pfütze aus Blut lag.
Wulfric sagte:
»David … Wo sind Ma und Pa?« Er erhielt keine Antwort.
Gwenda schaute sich
um und sah Wulfrics Mutter. Sie lag auf der anderen Seite, im nördlichen
Querschiff — dort, wo auf Geheiß des blinden Carlus die Toten abgelegt werden
sollten. »Wulfric«, sagte Gwenda leise.
»Was ist?«
»Deine Mutter … «
Sie streckte den Arm aus.
Wulfric erhob sich
und schaute in die gewiesene Richtung.
»Nein!«, rief er. »Onein!«
Sie durcheilten die
Kirche. Wulfrics Mutter lag neben Sir Stephen, dem Herrn von Wigleigh; im Tod
war sie von gleichem Stand wie er. Sie war eine kleine Frau; es war
erstaunlich, dass sie zwei solch großen, starken Söhnen das Leben geschenkt
hatte. Im Leben war sie drahtig und voller Energie gewesen, doch nun sah sie
wie eine zerbrechliche Puppe aus, weiß und dünn. Wulfric legte ihr die Hand auf
die Brust und tastete nach dem Herzschlag. Als er zudrückte, strömte Wasser aus
ihrem Mund.
»Sie ist ertrunken«,
flüsterte er.
Gwenda legte ihm
tröstend den Arm um die breiten Schultern. Sie wusste nicht einmal, ob er es
bemerkte.
Ein Soldat,
gewandet im Rot und Schwarz des Grafen, erschien mit dem leblosen Leib eines
großen Mannes. Wieder schnappte Wulfric nach Luft: Es war sein Vater.
Gwenda sagte: »Legt
ihn hierhin, neben sein Weib.« Wulfric war wie benommen. Er sagte keinen Ton,
schien unfähig zu sein, noch irgend etwas aufzunehmen. Gwenda war ratlos. Was
sollte sie dem Mann, den sie liebte, unter diesen Umständen sagen? Alles, was
ihr in den Sinn kam, hörte sich dumm und unpassend an. Gwenda wünschte sich
nichts mehr, als ihn trösten zu können — sie wusste nur nicht wie.
Während Wulfric auf
die Leichen seiner Mutter und seines Vaters starrte, blickte Gwenda durch die
Kirche zu seinem Bruder hinüber. David lag vollkommen still da. Rasch ging
Gwenda zu ihm.
Seine Augen
starrten ins Nichts, und er atmete nicht mehr.
Gwenda befühlte
seine Brust: Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Gwenda wischte sich
die Tränen aus den Augen und ging schweren Schrittes zu Wulfric zurück. Wie
sollte er diesen neuerlichen Schicksalsschlag ertragen? Doch es war sinnlos,
die Wahrheit zu verbergen. »David ist gestorben«, sagte sie leise.
Wulfric schaute sie
mit leeren Augen an, als hätte er sie gar nicht verstanden, und für einen
Moment kam Gwenda der entsetzliche Gedanke, er könne vor Schreck den Verstand
verloren haben. Doch schließlich sprach er wieder. »Alle …«, flüsterte er.
»Alle drei. Alle tot.« Er schaute Gwenda an, und sie sah, dass ihm Tränen in
die Augen stiegen.
Sie legte die Arme
um ihn und spürte, wie sein großer Leib von hilflosem Schluchzen bebte. Sie
drückte ihn fest an sich. »Armer Wulfric«, flüsterte sie. »Mein armer,
geliebter Wulfric.«
»Gott sei Dank habe
ich noch Annet«, sagte er.
Eine Stunde später
bedeckten die Toten und Verletzten den Großteil des Hauptschiffs. Der blinde
Carlus, der Subprior, stand mittendrin, zusammen mit dem schmalgesichtigen
Simeon, dem Schatzmeister, der ihm die Augen ersetzen musste, so gut es eben
ging. Carlus hatte das Kommando, weil Prior Anthony vermisst wurde. »Bruder
Theodoric, bist du das?«,
Weitere Kostenlose Bücher