Die Tore der Welt
sie jetzt?«
»Das kann ich dir
nicht sagen. Hilfst du uns, die Leute aus dem Fluss zu ziehen?«
»Ich will meine
Schwester finden.« Philemon platschte ins Wasser zurück.
Ben Wheeler kam aus
der Tür. Er war ein kantiger Mann mit breiten Schultern und dickem Hals. Er war
Fuhrmann und hatte sich auf dem Weg durch das Leben stets mehr auf seine
Muskeln als auf seinen Verstand verlassen. Nun stieg Ben zum Ufer hinunter und
schaute sich um.
Auf dem Boden vor
Caris‘ Füßen lag einer der Männer des Grafen. Er trug die rot-schwarze Livree
und war offensichtlich tot. Sie sagte: »Ben, bring diesen Mann in die
Kathedrale.«
Bens Frau Lib
erschien mit einem Kleinkind im Arm. Sie war klüger als ihr Gemahl und fragte:
»Sollten wir uns nicht zuerst um die Lebenden kümmern?«
»Wir müssen sie
erst aus dem Wasser holen, um zu wissen, ob sie tot sind oder nicht … und die
Leichen können wir nicht hier am Ufer lassen, weil sie den Rettern im Weg
liegen würden. Bring diesen Mann in die Kirche.«
Lib nickte ihm zu.
»Du solltest tun, was Caris sagt, Ben«, ermahnte sie ihn.
Ben hob den
Leichnam mühelos hoch und stapfte davon.
Caris erkannte,
dass sie die Leichen schneller würden fortschaffen können, wenn sie zu diesem
Zweck die Tragen der Bauarbeiter benutzten, und die konnten die Mönche herbei schaffen.
Aber wo waren die Brüder und Schwestern eigentlich? Caris hatte Ralph gesagt,
er solle Mutter Cecilia alarmieren, doch bis jetzt war niemand erschienen. Die
Verletzten müssten gesäubert werden und brauchten Verbände und Salben. Jede
Nonne, jeder Mönch wurde hier benötigt. Auch Matthew Barber musste gerufen werden:
Es gab viele gebrochene Knochen, die gerichtet werden mussten. Und Mattie Wise
musste den Verletzten schmerzlindernde Tränke verabreichen. Caris musste Alarm
schlagen, wollte das Ufer aber erst verlassen, wenn alles organisiert war. Wo
blieb Merthin nur?
Eine Frau kroch ans
Ufer. Caris stieg ein Stück ins Wasser und zog sie in die Höhe. Es war
Griselda. Ihr nasses Kleid klebte ihr am Körper; Caris konnte ihre üppigen
Brüste und die dicken Schenkel sehen. Da sie wusste, dass Griselda schwanger
war, fragte sie: »Ist dir etwas geschehen?«
»Ich glaub nicht.«
»Du blutest nicht?«
»Nein.«
Caris hörte
Schritte, schaute über die Schulter und sah zu ihrer Erleichterung Merthin und
mehrere Männer aus Ben Wheelers Garten kommen; einige von ihnen trugen die
Farben des Grafen.
Caris rief ihm zu:
»Nimm Griseldas Arm, Merthin! Hilf ihr die Stufen zur Priorei hinauf. Sie soll
sich hinsetzen und ausruhen.«
Beruhigend fügte
sie hinzu: »Ihr ist nichts passiert.«
Merthin und
Griselda schauten sie befremdet an. Erst da ging Caris auf, wie merkwürdig die
Situation war. Einen Augenblick lang standen die drei wie erstarrt da: die
werdende Mutter, der Vater des Kindes und die Frau, die ihn liebte.
Dann brach Caris
den Bann, indem sie sich umdrehte und den Männern Befehle gab.
Gwendas Tränen
versiegten. Es war nicht so sehr die zerbrochene Phiole, die sie traurig
stimmte: Mattie konnte einen neuen Liebestrank brauen, und Caris würde dafür
bezahlen — falls die beiden noch lebten. Nein, Gwendas Tränen galten vielmehr all
dem, was sie in den letzten vierundzwanzig Stunden durchgemacht hatte, vom
Verrat ihres Vaters bis hin zu ihren blutenden Füßen.
Sie empfand jedoch
keine Reue ob der beiden Männer, die sie getötet hatte. Sim und Alwyn hatten
versucht, sie zu versklaven und zur Hure zu machen. Sie hatten es nicht besser
verdient. Sie umzubringen war nicht einmal Mord gewesen, nicht im Sinne des
Gesetzes, denn einem Geächteten das Leben zu nehmen war kein Verbrechen.
Trotzdem zitterten Gwendas Hände. Sie frohlockte innerlich, denn sie hatte ihre
Feinde besiegt und ihre Freiheit zurückgewonnen; zugleich aber widerte es sie
an, was sie getan hatte. Nie würde sie vergessen, wie Sims sterbender Leib
gezuckt hatte, und sie fürchtete, dass das Bild von Alwyn, dem die Dolchspitze
aus dem Auge drang, sie in ihren Träumen immer wieder heimsuchen würde.
Die
widerstreitenden Gefühle — Triumph und Genugtuung, Furcht und Ekel —
ließen Gwenda am ganzen Leib zittern. Sie versuchte, die Erinnerungen an die
beiden Männer zu verdrängen, um wieder klar denken zu können. Wer mochte sonst
noch tot sein?
Ihre Eltern hatten
vorgehabt, Kingsbridge zu verlassen; also war ihnen sicher nichts geschehen.
Aber was war mit
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