Die Tore der Welt
ihrem Bruder Philemon? Mit Caris, ihrer besten Freundin? Mit
Wulfric, dem Mann, den sie liebte?
Als Gwenda über den
Fluss hinwegschaute, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Zumindest was Caris betraf,
konnte sie beruhigt sein: Caris war am anderen Ufer mit Merthin; sie schienen
eine Gruppe Männer einzuteilen, um Leute aus dem Wasser zu fischen. Gwenda wurde
von einer Woge der Dankbarkeit durchströmt. Wenigstens war sie jetzt nicht ganz
allein auf der Welt.
Aber was war mit
Philemon? Ihn hatte sie vor dem Einsturz der Brücke als Letzten gesehen. Er
musste ganz in ihrer Nähe ins Wasser gefallen sein, doch sie hatte ihn nirgends
entdecken können.
Und was war mit
Wulfric? Gwenda bezweifelte, dass er sich hatte anschauen wollen, wie eine Hexe
durch die Stadt gepeitscht wurde. Allerdings hatte er vorgehabt, heute mit
seiner Familie nach Wigleigh zurückzukehren, und es war denkbar — was Gott
verhüten möge —, dass sie just in dem Augenblick die Brücke hatten überqueren
wollen, als diese eingestürzt war. Gwenda ließ den Blick über die
Wasseroberfläche schweifen, hielt nach Wulfrics hellblondem Schöpf Ausschau.
Sie betete, ihn nicht mit dem Gesicht nach unten im Wasser treiben zu sehen.
Doch Wulfric war nirgends zu erblikken.
Gwenda beschloss,
ans andere Ufer über zu setzen. Sie konnte nicht schwimmen, hoffte aber, dass
ein ausreichend großes Stück Holz sie über Wasser halten würde. Sie entdeckte
eine Bohle, zog sie zu sich heran und ging fünfzig Schritt flussaufwärts, um
der Masse der Leiber im Fluss auszuweichen. Dann watete sie ins Wasser, wobei
sie die Bohle fest gepackt hielt. Skip folgte ihr furchtlos.
Es war
anstrengender, als Gwenda erwartet hatte, denn ihr durchnässtes Kleid hinderte
sie am Vorwärtskommen; dennoch erreichte sie das andere Ufer.
Sie lief zu Caris,
und die beiden jungen Frauen umarmten einander. »Was ist geschehen?«, fragte
Caris. »Was ist mit Sim?«
»Er war ein
Geächteter.«
»War?«
»Er ist tot.«
Caris blickte
verwundert drein.
»Er … ist beim
Einsturz der Brücke ertrunken«, sagte Gwenda, denn sie wollte nicht einmal,
dass ihre beste Freundin von den Umständen seines Todes erfuhr. »Hast du jemand
von meiner Familie gesehen?«
»Deine Eltern haben
gestern die Stadt verlassen. Philemon habe ich erst vor ein paar Augenblicken
gesehen. Er sucht nach dir.«
»Gott sei Dank! Was
ist mit Wulfric?«
»Ich weiß es nicht.
Jedenfalls ist er noch nicht aus dem Fluss gezogen worden. Seine Verlobte ist
gestern aufgebrochen, aber seine Eltern und sein Bruder waren heute Morgen in
der Kathedrale, beim Ketzerprozess gegen die verrückte Neil.«
»Ich muss ihn
suchen!«, rief Gwenda. Sie lief die Stufen zur Priorei hinauf und rannte über
den Rasen. Ein paar Standbesitzer packten noch immer ihre Habseligkeiten
zusammen. Gwenda konnte nicht fassen, dass sie ihrem Tagwerk nachgingen, als
wäre nichts geschehen, wo gerade Hunderte von Menschen bei einem schrecklichen
Unfall ums Leben gekommen waren — bis ihr klar wurde, dass die Leute vermutlich
noch gar nichts davon gehört hatten. Die Katastrophe hatte sich erst vor
wenigen Minuten zugetragen, auch wenn es Gwenda wie Stunden vorkam.
Sie eilte durchs
Klostertor und hinaus auf die Hauptstraße. Wulfric und seine Familie hatten in
Bells Gasthaus gewohnt, und so rannte Gwenda dorthin.
Ein Junge stand
neben einem Bierfass und musterte sie verängstigt.
Gwenda sagte: »Ich
suche nach Wulfric Wigleigh.« »Hier ist keiner«, antwortete der Junge. »Ich bin
der Lehrling. Sie haben gesagt, ich soll bleiben und das Bier bewachen.«
Irgend jemand hatte
alle an den Fluss gerufen, vermutete Gwenda.
Sie machte kehrt.
Als sie durch die Tür wollte, stand Wulfric vor ihr.
Gwenda fiel ihm
erleichtert um den Hals. »Du lebst! Gott sei Dank!«, rief sie.
»Es heißt, die
Brücke sei eingestürzt«, sagte er. »Dann ist es also wahr?« »Ja. Ich hab‘s mit
eigenen Augen gesehen. Wo ist deine Familie?« »Sie sind schon eine Zeit lang
weg. Ich bin geblieben, um eine Schuld einzutreiben.« Er hielt eine kleine
lederne Geldbörse in die Höhe. »Ich hoffe, sie waren nicht auf der Brücke …?«
»Das weiß ich nicht — aber ich weiß, wie wir´s herausfinden können«, sagte
Gwenda. »Komm mit.« Sie nahm seine Hand. Wulfric ließ sich von ihr auf das
Klostergelände führen, ohne ihr die Hand zu entziehen.
Seine Hand war
riesig, die Finger voller Schwielen, der
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