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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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recht machen.« Später hat die Dunkle die graue Kotte einer Aussätzigen geschenkt, die ist dann ganz glücklich darin herumgelaufen und hat’s der ganzen Stadt erzählt.
     
    Um diese Zeit hat es auch angefangen, dass Ortwin und noch zwei, drei andere von unserem Haufen jede Sonntagnacht verschwunden sind. Wichtige Treffen, hat Ortwin gemurmelt, und dass es nur was für die Älteren ist. Der Michel und ich waren natürlich stinkbeleidigt, und die Sache hat uns keine Ruhe gelassen. Also sind wir ihnen nachgeschlichen. Das war gar nicht so leicht, weil wir mussten ja aus dem Bett, ohne die Mutter zu wecken. Gott sei Dank ist die Irmel ein ganz liebes Kind, die schläft schon durch, bis die Sonne aufgeht; nicht so wie die lästige Ida, die ein Jahr lang alle zwei Stunden großes Geschrei gemacht hat. Darum wird die Mutter nächtens nur ganz selten geweckt. Also sind wir beim Schlag neun von der Turmglocke aufgestanden und haben den Ortwin abgepasst, wie er grade aus dem Fenster geklettert ist.
    Der Ortwin wohnt in einer winzigen Gasse, gleich bei der Stadtmauer, in einem hölzernen Anbau an das Malzhäuschen vom Brauer Ehrenprecht. Von da aus ist es ein ganzes Stück bis zum alten Münzhaus, vor allem, wenn man einerseits dem Nachtwächter nicht begegnen und andererseits den Ortwin nicht verlieren darf. Nachts ist es in der Stadt ganz schön unheimlich. Nach Sonnenuntergang hält sich niemand mehr in den Gassen auf, außer Gauner und Mörder und ähnliches Gesindel, sagt die Mutter immer. Anständige Leute sind daheim, wenn’s dunkel wird, und schlafen den Schlaf der Gerechten. Stockfinster ist’s, alle Fenster sind schwarze Löcher, bis auf ein paar, wo Kranke liegen. Und die Fenster vom Kerzenzieher in der Fleischgasse, weil das muss man im Sommer nachts machen, sonst wird das Wachs nicht fest.
    Wir sind zwar zu zweit, der Michel und ich, aber wir haben trotzdem ganz schön Schiss. Das Mondlicht taucht alles in milchigtrüben Schein, und die Stadt sieht gespenstisch aus, ganz anders als am Tag. Schwarz und riesig ragen die Giebel auf. Huh, da flattert etwas über unsere Köpfe! Wir zucken zusammen, aber es ist nur eine von den Schleiereulen, die im Dachstuhl des Rathauses nisten. Ihr Ruf klingt wie der Erkennungspfiff von Meuchelmördern, die sich verschworen haben, er schreckt nicht bloß die Mäuse, sondern lässt auch uns die Haare zu Berge stehen. Ich denke an die Worte des Pfarrers neulich: »Gott hat die Nacht als Beweis für die Existenz der Hölle geschaffen!« Wenn wir nur eine Lampe benutzen könnten! Geister mögen nämlich den Geruch von Talg und Öl nicht leiden. Michel bibbert, und mir ist auch mulmig, aber tapfer reißen wir uns zusammen und schleichen Ortwin nach. Wenn der nachts unterwegs sein kann, dann schaffen wir das auch.
    Jetzt bleibt Ortwin vor einem Haus neben der Münze stehen und klopft an ein Hintertürchen. Es ist ein verabredetes Muster, dreimal schnell und dreimal langsam. Das Türchen geht auf, er macht ein seltsames Handzeichen und schlüpft hinein. Der Michel und ich schauen recht dumm, bleiben aber in der Nähe stehen. Noch drei, vier Männer huschen heran, alles Erwachsene, und eine Frau. Sie alle machen das Zeichen und werden eingelassen. »Komm, wir gehen«, flüstert Michel mir zu und zieht mich am Hemd, »ich hab Angst.«
    »Noch nicht«, flüstere ich zurück und schleiche vorsichtig um das Haus herum. Hinten ist ein Garten, und man kommt ganz leicht über den Zaun. Im ersten Stock sehe ich hinter geschlossenen Läden Licht flackern. Irgendwo knarrt eine Tür, eine Ratte fiept. Plötzlich höre ich überall Geräusche. O Heiland, mir fallen die Männer ohne Kopf ein, die Werwölfe und Wiedergänger, die Geister der Selbstmörder und Ungetauften, die nachts ihr Unwesen treiben! Am liebsten würde ich wieder umkehren, aber als ich unter dem Fenster stehe, entdecke ich, dass an der Hauswand ein Spalier ist mit einem knorrigen Birnbaum. Da kann ich doch nicht aufgeben. »Ich geh da hoch«, raune ich Michel zu. Der packt mich am Arm. »Spinnst du? Lass doch. Ich will heim.« Ich reiße mich los und klettere am Spalierobst hoch. Und dann hänge ich vor dem Fenster und spähe durch eine Ritze nach drinnen.
    Alles ist hell vor lauter Talglämpchen. Im Zimmer sind acht oder neun Leute, einer davon ist Ortwin. Sie sitzen auf Schemeln und Stühlen, und vorne steht einer in einer grauen Kutte. Es ist ein alter Mann, ganz kahl, mit einer großen Brandnarbe auf der linken Backe. Er

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