Die Tore des Himmels
Bruder! Was würde er tun? Wo sollte das alles noch hinführen? Mich fröstelte. Hing nicht auch meine Zukunft von Heinrich Raspe ab?
Primus
E s gibt bald wieder Korn! Die Ähren stehen gut, es ist warm und trocken, und auf manchen Feldern hat die Ernte schon angefangen. Das bedeutet, die Teuerung ist bald vorbei. Wir sind bisher grad so über die Zeit gekommen, mit Gottes und Jungfer Gislinds Hilfe. Und mit dem, was der Michel so heimgebracht hat. Er zieht immer noch mit Ortwin herum. Richtig gute Beute haben sie in letzter Zeit nicht gemacht, aber ein bisschen was kommt schon zusammen. Ich hab versucht, Arbeit zu finden, aber außer mal einen Tag helfen im Fleischhaus oder ein, zwei Tage Bretter hobeln beim Zimmermann ist nicht viel gewesen. Ortwin will mich nicht mehr haben, weil ich beim Anblick der abgeschlagenen Hand kotzen musste, er sagt, ich soll mich bloß nicht mehr bei ihm blicken lassen. Also bringe ich noch ab und zu mal was Geklautes heim und regelmäßig den Kupferpfennig, den ich bekomme, wenn ich bei den heimlichen Treffen der »Reinen« Schmiere stehe. Außerdem verdiene ich demnächst wohl noch ein bisschen was mit Ratz, der bald wieder auf Rattenjagd gehen kann. Bis jetzt hat’s ja wegen der Hungersnot kaum noch Ratten gegeben.
Es ärgert mich, dass der Michel besser für uns sorgen kann als ich, und deshalb bin ich in letzter Zeit ziemlich garstig zu ihm. Schließlich bin ich der Ältere. Aber Mutter sagt, sie ist froh, dass sie sich nicht auch noch um mich Sorgen machen muss. Ich glaube, sie ahnt, mit wem Michel sich zusammengetan hat und was er so treibt.
Eines Abends, es ist der Tag Michaeli, an dem alle Dienstleute ihren Halbjahreslohn ausbezahlt kriegen, kommt Michel spät heim. Wir liegen alle schon im Bett, Mutter und die Mädchen schlafen. Das Hannolein liegt wie immer mit Ratz auf einem Haufen Lumpen neben der Feuerstelle und murmelt irgendwas im Traum. Michel tappt im Dunkeln zu unserer Bettstatt und legt sich neben mich. »Und?«, frage ich, »was erwischt?«
»Nichts«, flüstert er und klingt irgendwie seltsam.
»Alles in Ordnung?«
»Mmh«, macht er und dreht sich von mir weg. »Gut Nacht.«
Ich rolle mich auf den Bauch und schlafe ein.
Am nächsten Morgen wache ich auf, weil Ratz irgendwo an unserem Bettzeug herumschleckt. Mein Arm liegt um Michel, und als ich ihn wegnehme, merke ich, dass an meiner Hand was Dunkles ist. Blut. Herrgott!
Ich fahre hoch und ziehe die Decke von Michel weg. Der bewegt sich und stöhnt leise. An seiner Brust, auf der rechten Seite, ist das Hemd rot und zerfetzt.
»Mutter!« Ich rüttele sie wach. »Mutter, der Michel!« Mir ist plötzlich ganz eiskalt.
Sie richtet sich auf, und ich zeige ihr die blutige Stelle. »Herr im Himmel!«, jammert sie, »ich hab’s immer gewusst, dass es mal schlimm ausgeht!«
»Nicht so schlimm«, murmelt Michel schwach. »Bloß ein Kratzer.«
Wir ziehen ihm das Hemd aus, und dann sehen wir den »Kratzer«. Es ist ein tiefer Stich, die Ränder klaffen auf wie ein offenes Maul. Bluten tut’s nicht mehr, Gott sei Dank. Mutter tupft mit einem Lappen Blut und Schmutz von Michels Haut, und der zieht vor Schmerz laut die Luft ein. Die Wunde sieht ganz gut aus soweit. Ich reiße ein altes Betttuch in Streifen, und wir wickeln es um Michels Oberkörper. Es ist ihm schon viel besser, sagt er.
Dann gehe ich zum Pfandleiher und versetze mein Messer. Für das Geld kaufe ich ein schönes fettes Huhn. Hühnersuppe ist nämlich das Allergesündeste, wenn man krank ist. Die Ida rupft den Vogel, und dann kocht die Mutter eine herrliche Brühe, mit dem ganzen Hühnerfleisch drin und Kräutern und ein paar Graupen, die wir noch haben. Der Michel liegt im Bett und hat Schmerzen, aber die Suppe schmeckt ihm. »Die weckt einen Toten wieder auf«, sagt Mutter, und er isst einen ganzen Napf voll.
Am nächsten Tag geht es dem Michel schon wieder ein bisschen besser. Wir machen die Wunde noch mal sauber und verbinden sie neu. »Das wird schon«, meint Michel. Als die Mutter kurz weg ist, erzählt er mir, dass er und Ortwin versucht haben, einen herumziehenden Kramhändler um sein Geld zu erleichtern. Aber der hat sich wie verrückt gewehrt, und bevor Ortwin ihm eins über den Schädel ziehen konnte, hat er mit seinem Messer den Michel erwischt. Der hat in dem ganzen Durcheinander erst gar nichts gespürt, erst als er auf dem Heimweg war.
»Der Ortwin bringt bloß Unglück«, sage ich. »Wenn du wieder gesund bist, lassen
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