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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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ich die Tür. »Bitte«, schluchze ich, »bitte!«
    Irgendwann gebe ich auf.
    Als ich heimkomme, sitzt Mutter mit grauem Gesicht am Tisch und sieht aus wie eine uralte Frau. Sie betet. Das Talglämpchen brennt und wirft ein bisschen flackernden Schein auf Michel, der sich hin- und herwälzt und irgendwas redet, was man nicht verstehen kann.
    »Der Arzt will nicht kommen«, sage ich und versuche, nicht zu heulen.
    Mutter nickt bloß. Sie hat es gleich gewusst.
    Ich setze mich zusammen mit ihr ans Bett. Michel öffnet die Augen, aber irgendwie erkennt er uns nicht.
    »Michel, ich bin’s«, sage ich und nehme seine Hand. Er braucht ein Weilchen, aber dann schaut er mich an und lächelt. Ich sehe in seinem Gesicht den Tod. Die Tränen laufen mir über die Backen. »Michel«, sage ich, »du, ich hab’s mir überlegt. Das mit dem Kreuzzug. Du hast recht. Wir gehen da hin. Hörst du, Michel? Wir ziehen ins Heilige Land.«
    Er wendet den Kopf und versucht zu sprechen. »Du … und … ich?« Er ist so leise, dass ich ihn kaum verstehe.
    »Ja, wir zwei. Und dann, dann leben wir wie im Paradies. Wir essen jeden Tag Hühnchen und weißes Brot, und wir machen fette Beute bei den Heidenkerlen. Und wir beten am Grab Christi. Und da ist es immer warm und trocken, weißt du, nicht so wie bei uns. Und wir sehen den Kaiser, und den Papst, und …«
    Und dann schluchzt Mutter auf. Michel hat die Augen offen, aber er atmet nicht mehr. Mein kleiner Bruder ist tot.
     
    Wie viel kann man weinen?
    Mutter wäscht den Michel, da wird er schon kalt dabei, ich spüre es, als ich ihn am Zeh anfasse. Ida hat die Hausmännin um ein Laken gebeten als Leichentuch, weil wir kein sauberes ohne Löcher haben. Wir wollen es zahlen, sobald wir können, aber sie schenkt es uns. Dann näht die Mutter den Michel ein. Er ist jetzt bloß noch ein längliches, helles Bündel. Ich hab den Lutprant geholt, und der trägt den Michel zum Pfarrer. »Könnt ihr denn ein eigenes Grab zahlen?«, fragt er. »Wovon denn, Hochwürden?«, fragt Mutter müde zurück. Nicht mal eine ordentliche Beerdigung können wir uns leisten, mit Grabrede und so Sachen. Der Pfarrer sprengt bloß ein bisschen Weihwasser auf Michel. Der Totengräber will auch Geld, aber er gibt sich mit Michels Messer zufrieden. Ich will sie am liebsten alle umbringen.
     
    Der Michel liegt jetzt in einem Armengrab, in der hintersten Ecke vom Kirchhof, wo nie die Sonne hinkommt. Ich hasse die ganze Welt.

Gisa
    M it den ersten Herbststürmen des Jahres 1226 traf die erste Rate des vom Kaiser versprochenen Kreuzzuggeldes ein. Am Sonntag Luce sprengte ein Trupp schwerbewaffneter Reiter durch das Tor der Wartburg. Die Mäntel der Männer und die Schabracken der Pferde waren mit dem kaiserlichen Wappen verziert. Angeführt wurde die kriegerisch aussehende Gruppe von einem Ritter im Kettenhemd, der einen eleganten sarazenischen Schimmel ritt. Alles strömte neugierig im Burghof zusammen, auch ich ging hinunter, den kleinen Hermann an der Hand.
    »Schau, die tapferen Ritter alle«, sagte ich zu meinem Liebling. »Und dort vorn, das edle weiße Ross aus dem Morgenland!«
    Der Reiter des herrlichen Schimmels stieg ab und warf die Zügel einem Stallburschen zu. Dann nahm er den leichten Helm ab – und mein Herzschlag setzte aus. Mir war, als hätte ich einen Geist gesehen! Das konnte doch nicht sein! Er ist doch tot, dachte ich! Ich sah noch einmal hin: Er war es wirklich. Raimund von Kaulberg.
    Natürlich rannten alle auf ihn zu, begrüßten ihn, lachten und schlugen ihm auf die Schulter. Der Landgraf schloss ihn in die Arme wie einen alten Freund, ebenso die Vargula-Brüder. »Wir glaubten, Eure Knochen würden irgendwo in der Wüste bleichen«, rief Hermann von Treffurt.
    »Das könnte Euch so gefallen«, lachte Raimund von Kaulberg. Er ging reihum, begrüßte alte Bekannte, schüttelte Hände. Und dann stand er mir gegenüber. Himmel, ich konnte nichts dagegen tun – es versetzte mir einen Stich im Herzen. So wie früher.
    »Gott zum Gruß, Jungfer Gislind«, lächelte er, und ich erwiderte: »Willkommen daheim, Herr Ritter.« Ich spürte, wie ich rot wurde.
    Er deutete auf den kleinen Hermann. »Euer Sohn?«, fragte er.
    »O nein, nein«, stotterte ich, »er ist …« Ich riss mich zusammen. »Das ist Hermann, Erbe der Krone von Thüringen.« Hermann kicherte.
    Raimund von Kaulberg beugte lächelnd das Knie vor dem Kleinen. »Meine Ehrerbietung, Hoheit«, sagte er. »Ich will Euch gern dienen wie

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