Die Tore des Himmels
würgen und erbrach mich aus dem Fenster, bis die Galle kam. Und dann, auf dem Weg zurück in die Kinderstube, begrub ich alle meine Zukunftspläne. Nein, ich würde nicht die Frau des Landgrafenbruders werden, würde kein Leben im Luxus führen, würde nicht von allen verehrt und geachtet als Landesherrin in Hessen leben. Ich konnte mit Heinrich nicht mehr glücklich werden. Ich fasste den Beschluss, ihm zu sagen, dass es mit uns nicht weitergehen würde. Meine Liebe zu ihm war endgültig gestorben.
In den nächsten Tagen flüchtete ich mich in die Arbeit im Hospital. Hier herrschte seit dem ersten Schnee noch mehr Betrieb als sonst. Es gab viele Herumziehende und Arme, die in den Wäldern um Eisenach hausten, aber der Winter und die Krankheiten, die er mit sich brachte, hatten sie aus ihren Höhlen und Hütten getrieben. Manche Betten waren sogar mit drei Kranken belegt, und viele schliefen auf dem nackten Boden. Gesund werden konnte dabei wohl keiner; jeden Tag gab es Tote. Draußen wartete eine ganze Schar Elender auf einen freien Platz; kaum hatte man die Laken gewechselt, war die Schlafstatt wieder neu vergeben. Es war bitterkalt, die hustenden, zerlumpten Gestalten in dem kleinen Hof froren sich halb zu Tode. Elisabeth schickte mich schließlich nach Eisenach, um den Zimmermann zu bestellen. Er sollte so schnell wie möglich eine behelfsmäßige Hütte an das Bettengebäude anbauen, so dass die Ärmsten wenigstens vor Wind und Schnee geschützt waren.
Ich ging also dick vermummt den Pfad nach Eisenach hinunter. Und wen traf ich als erstes auf dem Weg zum Marktplatz? Meinen kleinen Freund Primus. Lange hatte ich ihn nicht mehr gesehen, und schon auf den ersten Blick erkannte ich: Er war nicht mehr mein »kleiner« Freund, er war erwachsen geworden. Er freute sich über das zufällige Treffen, und wir schlenderten gemeinsam durch die Gassen.
»Du bist gewachsen«, stellte ich fest, »und fast schon ein rechter Mann, mein ich. Geht’s dir gut?«
Er nickte, aber seine Augen blickten traurig. »Mein Bruder ist gestorben«, sagte er.
»Das tut mir leid.« Ich legte meinen Arm um seine Schulter und versuchte mich an den blonden Buben zu erinnern, der manchmal mit auf die Burg gekommen war. »Könnt ihr denn leben?«
»Es geht.« Er zuckte die Schultern. »Wir kriegen jetzt wieder das Almosen, die Ida hilft bei den Nonnen für Essen, und ich finde ab und zu Arbeit.«
Ich sah, dass er keine Schuhe trug, sondern stattdessen Lumpen um die Füße gewickelt hatte. Er tat mir leid. Ich hatte von Elisabeth etwas Geld für Einkäufe bekommen und beschloss, dass sie sicherlich nichts dagegen hätte, wenn ich es für Schuhe verwendete. »Komm mit«, sagte ich zu Primus und bog in die Predigergasse ein, wo die Schuster ihre Werkstätten hatten. Er schämte sich zuerst ein bisschen, das Geschenk anzunehmen, aber dann hielt er doch fein still, als der alte Schuhmacher seinen Leisten anlegte.
Danach gingen wir gemeinsam über den Marktplatz in Richtung Georgentor zum Zimmermann. Ich gab vor, Hunger zu haben, und kaufte im Brothaus ein paar Kümmelwecken. Er verschlang seine gierig. Dann hörte er plötzlich auf zu kauen. Offensichtlich hatte er etwas entdeckt. Ein Reiter in edler Kleidung kam vom Stadttor her und ließ sein Pferd langsam durch den Straßenmatsch trotten. Primus deutete auf ihn. »Wer ist das?«, fragte er.
Natürlich erkannte ich ihn sofort. Es war Heinrich; vermutlich hatte er seine Mutter im Katharinenkloster besucht. »Der jüngere Bruder des Landgrafen«, antwortete ich, »Heinrich Raspe.«
Ich zog meine Kapuze tiefer, weil ich nicht wollte, dass er mich sah, aber er schaute ohnehin nicht nach links und nach rechts, sondern ritt mit hochmütiger Miene weiter.
Primus sah ihm mit zusammengekniffenen Augen nach. »Nimm dich vor dem in Acht«, sagte er dann leise. »Er ist ein böser Mensch.«
Seine Worte trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich sah ihn erschrocken an. »Kennst du ihn denn?«
Er nickte.
»Und woher?«
Er zog mich um die nächste Ecke, wo niemand uns hören konnte. »Seit langem schon«, erzählte er, »treffen sich des nachts regelmäßig Leute in der Stadt. Sie halten eine Art Messe ab, die mit der Kirche nichts zu tun hat. Selber nennen sie sich ›die Guten‹ oder ›die Reinen‹, aber ich glaube, es sind …« Er sah sich unsicher um.
»… Ketzer?«, ergänzte ich.
»Pssst.« Primus legte den Zeigefinger vor die Lippen. »Das Wort ist gefährlich, sagt Lutprant.
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