Die Tore des Himmels
versuchten den trüben Ausdünstungen zu entgehen, indem sie ihr Lager möglichst nah am Meer aufschlugen, wo wenigstens abends ein leichter Wind aufkam. Sie teilten sich ein Zelt, vor dem in den Nächten Ratz Wache hielt. »Diebe gibt’s schließlich überall«, sagte Primus und dachte an Ortwin. Die beiden liefen sich nun häufiger über den Weg. Ortwin schien es an Geld nicht zu mangeln, einmal lud er Primus sogar in eine verlotterte Hafenkaschemme ein und spendierte einen Fischeintopf und eine Korbflasche mit süßem roten Wein. Primus sah, dass er nigelnagelneue Stiefel trug und an seinem linken Ohr einen kleinen goldenen Ring baumeln hatte. »Wie kannst du dir das leisten?«, fragte er, als sie beieinandersaßen.
Ortwin zuckte mit den Schultern. »Ei, der alte Schlotheimer bezahlt mich gut, damit ich ihm sein Söhnchen heil wiederbringe. Und außerdem habe ich vor ein paar Tagen einen gutgehenden Handel mit Amuletten aufgemacht.«
Primus wusste Bescheid. Jetzt, wo es langsam ernst wurde, wollte sich ein jeder noch schnell einen Glücksbringer anschaffen. Überall in den Gassen von Brindisi liefen angebliche Mönche herum, die Fläschchen mit der Milch der Muttergottes feilboten oder Locken vom Haar der zehntausend Jungfrauen, oder einen Strohhalm aus der Krippe des Jesuskinds. Billiger waren Zettelchen mit zauberischen Sprüchen, die man in die Kleider einnähen konnte; Bauchladenhändler verkauften sie für einen Pfennig das Stück. Dafür bekam man dann ein magisches Quadrat mit folgendem Text:
S A T O R
A R E P O
T E N E T
O P E R A
R O T A S
Am beliebtesten, weil angeblich am wirksamsten, waren jedoch Finger von totgeborenen Kindern, die man sich in einem Beutelchen um den Hals hängen und direkt auf der Haut tragen musste. »Draußen vor der Stadt«, erzählte Ortwin grinsend, »gibt’s einen Friedhof für ungetaufte Säuglinge. Da muss man bloß ein bisschen buddeln, und schon hat man ein kleines Vermögen ausgegraben.«
Primus schüttelte sich. »Mensch, Ortwin, das ist Leichenschändung!«
»Na und? Die spüren nichts mehr«, erwiderte Ortwin schulterzuckend. »Im Gegensatz zu den kleinen Kindern von den armen Leuten. Denen hackt man nämlich ganz gern ein Fingerchen ab, um ein bisschen was dazuzuverdienen. Ganz frische Finger bringen einen Haufen Geld. Willst du einen?«
Primus winkte hastig ab. Er beschloss, sich überhaupt keinen Glücksbringer zuzulegen und stattdessen auf sich selbst und Gott zu vertrauen.
Ortwin selbst besaß natürlich keines der grausigen Amulette, die er so gewinnbringend verkaufte. Er glaubte nicht an solche Dinge, und wenn überhaupt, hätte er sich einen Glücksbringer angeschafft, der ein Schwanzhaar des Teufels enthielt oder ein Stück Schwefel aus der Vorhölle. Je länger diese beschwerliche Reise dauerte, desto weniger Lust hatte er auf die Befreiung Jerusalems. Er hasste die Hitze, und nach allem, was man so hörte, war sie im Heiligen Land noch schlimmer als hier, in diesem gottverlassenen untersten Zipfel Italiens. Außerdem würde der Krieg gegen die Heiden kein Zuckerschlecken werden. Ja, wenn man die Auseinandersetzung im Nahkampf mit dem Messer austragen könnte, da wäre ihm nicht bang. Aber die hinterlistigen Sarazenen töteten einen aus der Ferne mit ihren Pfeilen. Und wenn sie einen lebend in die Hände bekamen, rissen sie einem den Schwanz ab und die Gedärme heraus. Keine schönen Aussichten. Ortwin wäre lieber früher als später wieder umgekehrt.
Aber er hatte einen Auftrag. Und den musste er erfüllen.
Raimund von Kaulberg saß vor seinem Zelt im Schatten und schärfte zum wer weiß wievielten Mal seine Schwertklinge. Das Warten machte einen ganz mürbe. Aber natürlich hatte es erst Sinn aufzubrechen, wenn alle Mann mit auf die Schiffe kamen. Man konnte schlecht absegeln, solange das halbe Heer mit Fieber und der Abweiche darniederlag. Die Seuche musste erst abklingen, bevor etwas geschehen konnte.
Also vertrieb man sich die Zeit mit Kampfübungen, die wegen der Hitze entweder in aller Herrgottsfrühe oder erst abends stattfanden. Danach saßen die Ritter zusammen, tranken und redeten. Einmal war er gemeinsam mit den thüringischen Edlen beim Kaiser eingeladen. Friedrich hatte ihn sogar wiedererkannt, von seiner Zeit als Waffenmeister in Palermo. Mit Handschlag hatte er ihn begrüßt, auf Deutsch ein paar freundliche Worte mit ihm gewechselt. Das hatte ihn stolz gemacht. Raimund dachte kurz an Eilika, den Mord an ihrem
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