Die Tore des Himmels
weiter.« Er malte mit einem Stecken die Ziffern von 1 bis 10 in den Sand. »Und die klügste Erfindung, die sie gemacht haben, ist die Zahl 0 .« Er tippte mit dem Stöckchen auf die Null. »Schau her, sie sieht aus wie ein großer Kreis. Sie hat für sich keinen Wert, aber wenn man sie an eine Zahl anhängt, verzehnfacht sie deren Wert. Und damit lässt sich nun ganz leicht rechnen …«
Sie verbrachten die nächste Stunde damit, Zahlen zu schreiben, zu addieren und zu subtrahieren. Dann wurde es einfach zu heiß zum Denken, und Raimund zog Hemd und Hosen aus, um sich zur Abkühlung in die Fluten des Meeres zu stürzen.
Primus sah fasziniert und etwas neidisch zu.
»Komm ins Wasser, Junge, es ist schön kühl!« Raimund winkte.
Primus schüttelte den Kopf. Er traute sich nicht. Einfache Menschen konnten nicht schwimmen, nur ein Ritter lernte so etwas. Er sah eine Weile zu, wie sein Herr im Meer paddelte, und ging dann, um Bruns Sattelzeug einzufetten.
Am Abend war Raimund zusammen mit den thüringischen Rittern und dem Landgrafen beim Kaiser zur Lagebesprechung geladen. Es sollte die letzte vor dem Absegeln sein.
»O bitte, Herr, nehmt mich mit!«, bettelte Primus, und Raimund konnte seinem herzerweichenden Blick nicht widerstehen. »Wenn das alle machen würden«, brummte er. »Aber meinetwegen, zieh dich an. Du bleibst an der Tür stehen und tust so, als hieltest du Wache. Und du redest kein Wort, verstanden?«
Primus nickte heftig.
Als sie den Stadtpalast betraten, führte man sie sofort in den großen Saal im ersten Stockwerk. Der Landgraf und die meisten Ritter waren schon da, es herrschte gespannte Stimmung. Heute würde der Kaiser endlich seine Pläne erläutern.
»Majestät.« Raimund beugte das Knie vor Friedrich, der mit Ludwig vor dem größten Fenster des Raumes stand, aus dem ein lauer Abendwind hereinwehte. Ludwig sah blass aus, unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. Raimund runzelte besorgt die Stirn, als er es bemerkte. Dann bedeutete der Kaiser ihm leutselig, er solle sich erheben; zum Landgrafen sagte er in seinem stark italienisch angehauchten Deutsch: »Wer solche Männer in seinen Diensten hat, mein Freund, kann sich glücklich schätzen. Ich kenne Euren Waffenmeister aus Palermo. Ein ausgezeichneter Kämpfer.«
Raimund dankte und entfernte sich höflich, während sich der Kaiser weiter mit Ludwig unterhielt. Der Thüringer war für ihn der wichtigste deutsche Reichsfürst auf dem Kreuzzug; er hatte ihn schon bei der ersten Zusammenkunft in Troia zum Marschall ernannt. Aber nicht nur das – die beiden hatten sich in den letzten Wochen angefreundet, täglich miteinander Schach gespielt und gemeinsame Schlachtpläne für Jerusalem entworfen.
Jetzt ließ der Kaiser einen Diener mit dem Stab aufklopfen, und alle nahmen um den riesigen Tisch Platz, der in der Mitte des Saales stand. Man hatte eine Seekarte des Mittelmeeres darauf ausgerollt und die Ecken mit Steinen beschwert.
Primus, der wie befohlen bei der Tür stehen geblieben war und sich möglichst unauffällig an die Wand drückte, hörte begierig zu, wie der Kaiser die Schifffahrtsroute erläuterte, die man nach Outremer nehmen wollte. Zielhafen war Akko, die einzige Stadt im Heiligen Land, die noch in christlichen Händen war. »Herr Landgraf«, bat Friedrich, »seid so gut und zeigt mit dem Stab den Weg der Flotte und die Häfen, wo wir unterwegs anlanden werden.«
Ludwig ergriff den schmalen Zeigestock und stand auf. Er setzte die Spitze des Stabes zunächst auf Brindisi, dann tippte er auf Otranto, dann fuhr er übers Meer. Primus stutzte. Schwankte der Landgraf etwa? Der Stab beschrieb einen merkwürdigen Bogen über die Karte, erreichte plötzlich Land und fiel schließlich aus Ludwigs Hand. Der Graf von Gleichen, der neben ihm saß, sprang auf und stützte ihn. Ludwig war leichenblass, auf seiner Stirn standen winzige Schweißtröpfchen. Man führte ihn unter bestürzten Ausrufen zu einem arabischen Diwan, wo er sich mit einem leisen Stöhnen niederlegte. Er schlotterte. Jemand reichte ihm einen Becher Wein, doch er konnte ihn nicht halten, weil seine Hände krampften. Der Kaiser schickte einen Diener nach draußen; dann erklärte er die Besprechung für beendet. Die Ritter verließen nacheinander den Saal, nur Raimund blieb auf ein Zeichen des Landgrafen, der nun versuchte, die Besorgnis des Kaisers zu zerstreuen. »Es ist nichts«, meinte er, »nur ein kleiner Schwächeanfall, nichts weiter.«
Ein junges
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