Die Tore des Himmels
unfähig, bei den Presswehen mitzuhelfen, so dass am Ende Isentrud sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ihren Leib legte und das Kind aus ihr herausdrückte. Und welche Erleichterung erfasste uns, als wir sahen, dass es lebte, dass es strampelte, dass es an allen Gliedern gesund war. Als es anfing zu brüllen, stieß Isentrud einen Juchzer aus, und ich schickte ein Dankgebet zum Himmel.
Wir rieben es trocken, und Guda legte es Elisabeth an die Brust. »Es ist ein Mädchen, Elisabeth«, sagte sie, »freu dich doch!«
Elisabeth drehte den Kopf weg.
Nach zwei Tagen war noch immer keine Milch eingeschossen. Elisabeth weigerte sich zu essen. Sie trank nur Wasser und einen säftetreibenden Himbeerblätteraufguss, der aber auch nicht half.
Ich suchte Konrad von Marburg und fand ihn schließlich im Garten hinter dem Peterskirchlein auf einer Steinbank. »Meister Konrad«, sagte ich, »ich bitte Euch, erlaubt der Landgräfin zu essen, auch wenn sie das Speiseverbot nicht einhalten kann. Sie hat keine Milch, es geht ihr schlecht, und der Kleinen auch.«
Er sah mich mit kalten Augen an. »Soll ich ihren Ungehorsam auch noch befördern?«, fragte er. »Sie war es doch, die nach Askese verlangte. Und nach Strafe.«
»Herr«, erwiderte ich, »sie hat gerade ein Kind geboren. Es ist ohnehin ein Wunder, dass beide es überstanden haben, nach allem, was geschehen ist. Ich flehe Euch an, helft ihr!«
»Holt eine Amme für das Kind.« Er stand auf und richtete die Falten seines Gewands. »Und was die Landgräfin betrifft – sagt ihr, ich überlasse die Entscheidung ihr.«
»Ihr wisst genau, dass sie diese Entscheidung nicht treffen wird, Herr Konrad.«
»Gottes Wille geschehe.« Er wandte sich zum Gehen.
In meiner Wut und Verzweiflung stellte ich mich ihm in den Weg. »Wenn mit dem Kind etwas nicht gutgeht, oder mit Elisabeth, dann werde ich dem Landgrafen berichten, dass es allein Eure Schuld ist. Das schwöre ich bei der heiligen Muttergottes!« Ich bebte vor Zorn.
»Was willst du schon erzählen, Weib?«, schnaubte er verächtlich.
»Dass sich Elisabeth auf Euer Geheiß hin bis aufs Blut selbst gezüchtigt hat, das werde ich erzählen. Und dass das Kind deshalb zu früh kam. Und dass Ihr, Meister Konrad, heimlich dabei zusaht, mit den Augen eines Lüsternen!«
»Lüge!«, brüllte er.
»Ich habe Euch gesehen.« Ich atmete schwer. »Und darauf werde ich jeden Eid leisten.«
Eine geschlagene Zeit standen wir einander gegenüber und starrten uns an. Ich werde nicht die Erste sein, die wegschaut, dachte ich verbissen. Und wenn ich tot umfalle. Und dann gab er nach. »Nun gut«, sagte er mit gepresster Stimme. »Ich will also zur Landgräfin gehen und ihr Dispens vom Speisegebot erteilen. Bis Weihnachten, nicht länger.«
Ich atmete auf und neigte höflich den Kopf. »Ich danke Euch, Meister Konrad.«
Am nächsten Tag reiste er in aller Frühe ab.
Und Elisabeth aß wieder. Die Milch wollte zwar trotzdem nicht kommen, aber wir fanden in der Stadt eine Amme, die sich der Kleinen annahm. Das winzige Ding, das nach Elisabeths Willen Gertrud heißen sollte wie ihre Großmutter, holte die zwei Wochen, die es zu früh gekommen war, schnell auf und gedieh prächtig. Und es war eine Freude zuzusehen, wie es Elisabeth schmeckte. Es war fast wieder wie früher, als wir Kinder waren. Sie kostete von jeder Speise, naschte von den süßen Sachen, ließ kein Gericht aus. Ja, sie stopfte das Essen geradezu in sich hinein, als ob sie nachholen wollte, was sie in den langen Monaten des Speisegebots verpasst hatte. Was uns allerdings zu denken gab, war ihr Verhalten der kleinen Gertrud gegenüber. Oh, sie trug sie herum, summte ihr Liedchen vor, half der Amme beim Wickeln und Saubermachen. Aber nie küsste oder herzte sie die Kleine, nie spielte sie mit ihren Fingerchen oder Zehen, nie kitzelte sie ihr Bäuchlein, so wie sie es bei Hermann und Sophie immer getan hatte. Da war eine Gefühlskälte, ein Mangel an mütterlicher Nähe, die wir uns nicht erklären konnten.
Stattdessen ging sie, sobald sie kräftig genug war, wieder jeden Morgen voller Freude hinaus vor das Tor, um ihre geliebten Armen mit Gaben zu beglücken. Und eines Nachmittags holte mich Isentrud aus dem Frauenzimmer, wo ich mit Hermann und Sophie gerade Himmel und Hölle spielte. »Komm«, sagte sie zu mir, »das musst du dir ansehen.«
Sie führte mich in den Obstgarten. Unter einem schattenspendenden Birnbaum saß Elisabeth mit einem jungen Bettler, dessen Haut
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