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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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in denen sie wohnten, umgeben von einem Flechtwerkzaun.
    Schon von weitem sahen wir in dem Kirchlein noch Licht. Wir betraten es durch die Hauptpforte, die stets offenstand. Und dann atmeten wir auf. Wir hatten Elisabeth gefunden, endlich! Da lag sie, die Arme weit ausgestreckt, auf den eiskalten Steinfliesen vor dem Altar. Jemand hatte eine Decke über sie gebreitet. An den Seitenwänden der Apsis flackerten rußend zwei kleine Talglichter.
    »Gott sei Dank«, flüsterte Guda.
    Langsam gingen wir durch das dunkle Kirchenschiff nach vorne. Guda kniete sich neben Elisabeth und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Erszi«, sagte sie leise, »Erszi, wir sind’s. Steh auf und sprich mit uns.«
    Sie regte sich nicht.
    Im Halbdunkel des Chorgestühls sah ich Vater Rodeger sitzen, der uns zu sich winkte. »Lasst sie«, sagte er. »Sie hält Zwiesprache, seit Stunden schon.«
    »Vater, was sollen wir tun?«, fragte ich. »Sie muss doch wieder mit nach Hause.«
    Er schüttelte mit einem müden Lächeln den Kopf. »Dort droben ist nicht mehr ihr Zuhause, Gisa. Sie sagt, sie lässt ihrem Gewissen nicht länger Gewalt antun.«
    Plötzlich stand Elisabeth bei uns, lautlos war sie herangekommen. »Ich will frei sein«, sagte sie mit fester Stimme. »Mein Platz ist nicht mehr bei denen, die Gott lästern.«
    »Frei?«, rief ich. »Und was ist mit deinen Kindern?«
    »Das Evangelium sagt: Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert.«
    Ihr Gesicht hatte einen verklärten Ausdruck angenommen. Mich überkam ein solcher Zorn auf sie, dass ich sie packte und schüttelte. »Ja, wo willst du denn hin? Du hast doch nichts! Was willst du tun? Und wie willst du leben?«
    »Nackt sollst du dich deinem Heiland in die Arme werfen.« Sie lächelte selig. »Das hat Meister Konrad gesagt. Verstehst du nicht? Ich will nicht mehr mit Raub und Plünderung meinen Unterhalt bestreiten. Ich werde sein wie die Armen, eine von ihnen.«
    »Du meinst, du willst betteln gehen?«, fragte Guda ungläubig.
    Elisabeths Augen leuchteten. »Ich will die Geringste sein unter den Menschen. Das ist die wahre Nachfolge Jesu. Guda, denk doch nur, sie werden mich mit Freuden aufnehmen, all diejenigen, denen ich geholfen und gegeben habe! Ich werde äußerlich arm sein, ja, aber in der Seele reich!«
    Ich schob Rodeger nach vorn. »Vater, sagt ihr, das das nicht sein kann.«
    »Ach, Gisa!« Sie umarmte mich, strahlend vor Freude. »Lass mich meinen Weg gehen! Ich hätte das längst tun sollen; es ist alles, was ich je wollte. Alles, was früher war, ist Streu und Dreck für mich. Incipit vita nova – ich fange ein neues Leben an!«
    Ich erkannte sie nicht mehr. Sie war wie entrückt. Ein letztes Mal versuchte ich es noch: »Aber wenn du in Armut lebst, kannst du niemandem mehr helfen!«
    Sie nickte. »Vielleicht. Wenn der Herr will, dass ich trotzdem weiter gute Werke tue, dann wird er mir die Mittel dazu schon geben. Es liegt ab nun alles in seiner Hand.« Sie sah auf zum Gekreuzigten, der, in Lindenholz geschnitzt, über dem Altar hing. »Er hält mich und führt mich zu den Toren des Himmels.« Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie lächelte dabei.
    Ich sah Guda an und sie mich. Dann gaben wir auf. »Können wir heute Nacht hierbleiben?«, fragte ich Rodeger.
    Er nickte.
    Elisabeth kniete inzwischen wieder vor dem Altar. Guda und ich machten es uns in einer Nische so bequem wie möglich, aber wir konnten vor lauter Kälte nicht schlafen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich draußen das erste Licht der Dämmerung zeigte. Die ersten Mönche kamen in die Kirche, um das Morgengebet zu entrichten. Sie nahmen ihre Plätze im Chorgestühl ein.
    Als der erste Sonnenstrahl durch das Rundfenster der Apsis auf den Altar fiel, erhob sich Elisabeth von den Knien. »Singt mir das Te Deum!«, bat sie die Minderbrüder. »Ich will den Herrn loben und ihm danken dafür, dass er mich hierhergeführt hat.«
    Rodeger begann, und nach und nach fielen die Mönche mit ein. Es lag ein unbändiger Jubel in diesem Lied, etwas, dem sich niemand im Raum entziehen konnte. Selbst ich spürte, wie mich eine Kraft ergriff, die nicht von dieser Welt war. Tränen stiegen mir in die Augen.
    Durch die Kirche erscholl der große, altehrwürdige Lobgesang:
    »Te Deum laudamus.
    Te Dominum confitemur.
    Te aeternum patrem omnis terra veneratur.
    Tibi omnes Angeli, tibi caeli et universae

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