Die Tore des Himmels
glatten Sohlen ihrer Lederschuhe aus. Die Dezemberluft war bitterkalt, aber sie spürte es nicht. In ihrem Kopf war eine merkwürdige Leere, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Aber sie wusste: Die Entscheidung war gefallen. Ihr Leben würde nie mehr so sein wie vorher. Sie war jetzt auf sich allein gestellt. Ein Gefühl der Endgültigkeit stieg in ihr auf, und dann, langsam, fühlte sie eine seltsame Erleichterung. Sie hatte ihre Wahl getroffen. Gott würde ihr beistehen.
Sie drehte sich kein einziges Mal um auf ihrem Weg hinunter nach Eisenach.
Gisa
» S ie ist was?« Ich traute meinen Ohren nicht. Gerade war Guda völlig aufgelöst ins Frauenzimmer gestürzt, gefolgt von Isentrud.
»Weg! Aus der Burg! Einfach so, vor einer Stunde!«, keuchte Guda.
»Sie hatte Streit mit Heinrich Raspe«, ergänzte Isentrud. »Und da ist sie gegangen. Der Torwart hat’s uns erzählt.«
Ich musste mich auf einen Scherenstuhl setzen. Das durfte doch nicht wahr sein! Wie konnte sie so etwas Unvernünftiges tun? Hier waren ihre Kinder, das jüngste kaum drei Monate alt! Die konnte sie doch nicht einfach zurücklassen! Und was war mit uns Zofen? Wie konnte sie glauben, da draußen alleine zurechtzukommen, wo sie doch in ihrem ganzen Leben noch nie ohne uns gewesen war? Was wollte sie tun ohne Geld, ohne Unterkunft, ohne Hilfe? Wo wollte sie hin, mitten im Winter, in der Eiseskälte? »Sie ist verrückt geworden«, sagte ich.
»Wir müssen ihr nach!«, rief Guda. »Sie hat doch nichts dabei. Und sie ist ganz alleine!«
»Herrgott, wenn sie auch solchen Unsinn macht!«, schimpfte Isentrud. »Wie kann man nur so dickköpfig sein!«
»Trotzdem«, beharrte Guda. »Wir müssen ihr helfen. Wer weiß, was ihr da draußen geschieht!«
Ich stand auf. »Du hast recht, Guda. Du und ich, wir gehen. Du, Isentrud, passt auf die Kinder auf. Vielleicht können wir Elisabeth überreden zurückzukommen. Eine Mutter kann doch nicht einfach ihre Kleinen verlassen. Sie kommt bestimmt zur Besinnung, wenn wir mit ihr sprechen.«
Ich ging zu Elisabeths Truhe und packte zur Sicherheit das bisschen einfachen Schmuck und die paar Geldstücke, die wir noch darin hatten, in ein Bündel. Guda raffte derweil Decken und Mäntel zusammen. Dann zogen wir unsere wärmsten Sachen an, mehrere Schichten übereinander, damit wir Elisabeth etwas abgeben konnten. Isentrud packte ein paar Wecken in einen Henkelkorb und drückte ihn mir in die Hand. »Viel Glück«, sagte sie. »Bringt sie wieder.«
So machten wir uns kurz vor Sonnenuntergang durch Schnee und Wind auf den Weg in die Stadt.
Wir schafften es gerade noch vor Toresschluss, der Wächter ließ uns durch die Schlupfpforte. »Habt Ihr die Landgräfin gesehen, Thomas?«, fragte ich ihn.
»Und ob«, antwortete er und schüttelte den Kopf. »Ganz allein ist sie gekommen, zu Fuß, mitten im größten Schneetreiben. Und ausgesehen hat sie wie ein Gespenst!«
»Wo ist sie hin?«
»Woher soll ich das wissen?«, brummte Thomas. »Vielleicht zur alten Landgräfin ins Kloster?«
Wir liefen weiter. Ich glaubte nicht, dass Elisabeth zu Sophia gegangen war. »Wir versuchen’s beim Hellgrevenhof«, sagte ich zu Guda. »Sie braucht schließlich einen Platz zum Schlafen.«
Doch im Hellgrevenhof hatte man sie nicht gesehen. Auch in den anderen Wirtshäusern war sie nicht. Während unserer Suche war es dunkel geworden. Wir baten einen Wirtsknecht, er möge uns leuchten, und suchten verzweifelt weiter. Inzwischen war bald Mitternacht.
»Vielleicht ist sie im Nikolaikloster?«, überlegte Guda.
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie hat immer gesagt, dass sie das Klosterdasein verachtet. Das man dort kein Leben in der Nachfolge Christi führen kann. Und es war ihre größte Sorge, dass Heinrich sie zu den Zisterzienserinnen nach St. Katharina steckt und nicht mehr fortlässt. Nein, sie würde nie freiwillig ins Kloster gehen.« Ich war mir sicher.
»Und zu den Franziskanern?« Guda sah mich an.
Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich! In ein Frauenkloster wollte sie nicht, aber zu ihrem ehemaligen Beichtvater Rodeger konnte sie gehen, um ihn um Rat und Hilfe zu bitten. »Das ist es!«, rief ich und stieß den Wirtsknecht in die Seite. »Zu den Minderbrüdern!«
Die Franziskaner hatten auf landgräfliche Erlaubnis hin vor zwei Jahren die ehemalige, zu klein gewordene Pfarrkirche St. Michael übernommen, die am Hang oberhalb des Steinhofs stand. Einfache Holzhütten hatten sie dort gebaut,
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