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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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sein, werde mein Glück von einem anderen Menschen abhängig machen. Ich brauche niemanden.
    Und doch – er schaute die Männer an, die nun alle an Deck waren und ungeduldig darauf warteten, endlich wieder Land zu betreten. Sie alle kehrten zu irgendjemandem heim. Sie hatten Frauen, Kinder, Eltern, vielleicht auch nur eine Liebste, die auf sie wartete. Aber er? Zu wem wollte er heimkommen? Sein Vater war lange tot, Eilika fristete ihr Leben im Kloster, seinen Herrn hatte das Fieber geholt. Es gab niemanden. Ein rechtes Zuhause hatte er auch nicht. Der Familiensitz gehörte schon seit zwei Generationen der älteren Linie. Er und sein Vater hatten immer am Landgrafenhof gelebt. Aber nun, so wusste er, würde Heinrich Raspe als Vormund des kleinen Hermann regieren, und mit Heinrich hatte er sich nie wirklich verstanden. Nein, er hatte keine Heimat. Er versuchte, sich den Landgrafenhof vorzustellen, den er so lange nicht mehr gesehen hatte. Gab es etwas, gab es jemanden, der sich freuen würde, ihn wiederzusehen? Den er gern wiedergesehen hätte?
    Und dann, langsam, ganz langsam, entstand ein Bild vor seinen Augen, erst undeutlich, dann immer klarer. Ein Gesicht, schmal und hellhäutig, Haar wie flüssiges Silber, Lippen rot wie Blut. Ein vorwitziges Lächeln, das eine Reihe perlweißer Zähne enthüllte. Die freche kleine Lücke in der Mitte zwischen ihren Schneidezähnen. Runde Ohrläppchen, an denen goldene Ringlein baumelten. Die zarte Halsbeuge mit dem kleinen Muttermal. Raimund hörte sogar die Stimme, die zu diesem Gesicht gehörte, klar und rein, und er erkannte das alte Lied, das sie sang. Er sah den schlanken Körper in dem blauen Kleid, die Veilchen im ovalen Ausschnitt. Die zartgliedrige Hand, deren Finger an den Saiten der Laute zupften. Er roch den Duft der Veilchen, schmeckte das Salzige ihrer Haut. Und dann wurde das verschwommene Bild scharf und deutlich. Sie war da, ganz nah in seiner Vorstellung, fast glaubte er, sie greifen zu können: Gisa.
    Er schüttelte den Kopf. Wie kam es nur, dass er ihre Schönheit die ganze Zeit nicht erkannt hatte? Verwirrt gab er sich einen Ruck, verließ seinen Platz an der Reling und ging zu den anderen zurück. Das Anlanden stand bevor.
     
    Gleich bei Sonnenaufgang begaben sich die vornehmsten Ritter und Adeligen in die Kathedrale von Otranto. Ihre Mienen waren ernst, die Schritte schwer. Keiner tat gern, was nun getan werden musste, aber sie würden ihre Pflicht erfüllen. Voller Ehrfurcht umringten sie den hellen Marmorschrein, die Träger stellten ihre Holzbahre auf den Fliesen ab. Vater Berthold ließ sie zum Gebet niederknien und erteilte ihnen zusammen mit dem Segen die göttliche Erlaubnis für ihre traurige Aufgabe.
    Auf ein Zeichen des Grafen von Gleichen packten die vier stärksten Ritter an den Ecken an und verschoben unter Aufwendung all ihrer Kräfte den steinernen Deckel des Katafalks mit lautem Knirschen. Kaum hatte sich eine schmale Öffnung gebildet, entwich jäh der Pesthauch der Fäulnis und legte sich wie ein bleiernes Tuch über die Männer. Der Geruch war so unerträglich, dass einige aufstöhnten. Raimund versuchte, seinen Würgereiz zu unterdrücken und die aufsteigende Übelkeit nicht zuzulassen. Die Männer, die den Deckel bewegt hatten, waren zurückgeprallt und schnappten nach Luft. Jetzt griffen sie erneut an den Stein, schoben ihn weiter zur Seite. Der Ritter am Kopfende warf einen Blick ins Innere, taumelte vom Schrein fort und erbrach sich auf den Boden. Ein anderer nahm seine Stelle ein, die Augen abgewandt, um nicht hinsehen zu müssen.
    Endlich lag der Sarkophag offen. Raimund versuchte, möglichst flach zu atmen, als er näher trat. Er nahm all seine Willenskraft zusammen und wappnete sich für die Begegnung, die ihm nun bevorstand. In seiner Erinnerung sah er Ludwig vor sich: Die blonden, schulterlangen Locken, die ihm weich ums Gesicht fielen, die hellblau blitzenden Augen, das bartlose Kinn mit der kleinen Narbe. Kräftige Schultern, ein Körper voller Spannkraft. Wie oft hatte er dem jungen Landgrafen Unterricht mit dem Schwert gegeben, hatte gegen ihn gekämpft und am Ende so manches Mal verloren. Wie oft hatten sie zusammen an der Tafel gesessen, getrunken und gelacht. Einzelheiten, Kleinigkeiten fielen Raimund wieder ein: dass Ludwig zeitlebens Bier verabscheut hatte, und Heringe. Dass er einmal als Junge in die Rossschwemme gefallen und beinahe ertrunken war. Wie er sich auf dem Turnieranger der Neuenburg mit seinem Bruder

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