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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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du träumt, sag?«, fragte Hannolein. Er war der einzige aus Primus’ Familie, der keine Scheu vor Elisabeth hatte. Jetzt kletterte er zu ihr auf die Bettstatt und kuschelte sich an sie.
    »Ich hab die Tore des Himmels gesehen«, sagte sie einfach.
     
    Später, als das Fieber ganz gefallen war, erzählte uns Elisabeth, was ihr während des Fieberschubs widerfahren war. »Ich habe den Himmel offen gesehen«, sagte sie mit glückseliger Miene, »und meinen süßen Herrn Jesus, wie er sich zu mir neigte und mich tröstete. Alle meine Ängste nahm er mir und erleichterte mir die Last der Bedrängnisse, die mich allsamt umgeben. Wenn ich ihn sah, war ich froh und lachte, wenn er aber sein Antlitz abwandte, als ob er mich verlassen wollte, weinte ich. Er erbarmte sich aber meiner, wandte mir sein strahlend helles Gesicht zu und sagte: ›Wenn du mir nachfolgen willst, werde ich mit dir sein bis ans Ende deiner Tage und darüber hinaus.‹«
     
    Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob dieses Erlebnis wirklich eine heilige Erfahrung war oder ob einfach nur das Fieber Elisabeth einen Streich gespielt hat. Aber Elisabeth selber war zutiefst von ihrem Gnadenerlebnis überzeugt, genauso wie Isentrud. »Was Elisabeth gesehen hat, war wahr und echt«, antwortete sie mir, als ich vorsichtig meine Zweifel äußerte. »Hast du nicht selber bemerkt, dass etwas ganz Besonderes in ihr vorging? Du hast es doch auch gespürt!«
    Ja, ich hatte es gespürt. Und ich wollte daran glauben, ganz fest. Diese Christusbegegnung war alles, was sich Elisabeth jemals gewünscht hatte. Es war für sie die Bestätigung dafür, dass sie richtig gehandelt hatte. Dass es recht gewesen war, die Wartburg zu verlassen und niederzusteigen zu den Ärmsten. Dass all das Elend sich gelohnt hatte. Dass der Weg, den sie gewählt hatte, ins Himmelreich führte. Und die Tatsache, dass Elisabeth innerhalb von zwei Tagen wieder völlig gesund war, machte sie und uns alle umso sicherer. »Jetzt werde ich auch noch den letzten Schritt tun«, sagte sie.
    »Was meinst du?«, fragte ich zurück.
    Sie lächelte wissend. »Du wirst schon sehen.«
     
    Dann kam der Karfreitag. In diesem Jahr fiel er, ich erinnere mich genau, auf den 28 . März. Es war ein wunderschöner himmelblauer Frühlingstag, die Winterlinge und die Schneesternchen blühten, die Luft war mild und klar. Elisabeth hatte diesen Tag gewählt, um der Welt den Entschluss mitzuteilen, den sie nach ihrer Vision gefasst hatte.
    Inzwischen waren wir so ausgehungert, dass unsere Knochen an allen Ecken und Enden unseres Körpers hervorstachen. Blass wie die Geister waren wir, das Haar stumpf, die Lippen aufgesprungen, die Füße voller Frostbeulen, die Hände rissig und rau. Aber Isentrud und auch die inzwischen heimgekehrte Guda glaubten fest an Elisabeth und ihre Sache. Und ich schluckte meine Zweifel und Ängste hinunter und hielt zu ihnen.
    Das Michelskirchlein der Franziskaner war an diesem Leidenstag Christi bis auf den letzten Platz gefüllt. Es waren lauter arme Leute da, die Reichen gingen nicht zu den Franziskanern. Also fielen wir in unserer schäbigen Kleidung nicht weiter auf. Der Altar stand nackt und bloß; man hatte, wie es der alte Brauch war, die Altardecken abgenommen in Erinnerung an die Entblößung Jesu am Kreuz. Elisabeth deutete auf die blanke Steinplatte. »Heute werde ich nackt dem nackten Christus nachfolgen«, lächelte sie, und wir fragten uns, was das wohl zu bedeuten hatte.
    Die Messe begann. Wir standen bis zum Schluss ganz hinten auf der Frauenseite, es war kalt und zugig und wir froren die ganze Zeit. Der Gottesdienst verlief ergreifend und traurig wie an allen Karfreitagen; die Menschen waren aufgewühlt und erschüttert über Passion und Kreuzigung des Herrn. Und dann, gerade als Vater Rodeger die Gemeinde entlassen wollte, drängte sich plötzlich Elisabeth durch die Mittelgasse, die Frauen und Männer voneinander trennte. Erst jetzt sahen wir, dass sie barfuß war. Aufrecht schritt sie auf nackten Sohlen bis ganz nach vorne, stellte sich neben den Altar und legte ihre rechte Hand auf den kalten Stein. Dann hob sie die Linke zum Schwur.
    Es wurde mucksmäuschenstill, und die Leute reckten die Köpfe, als Elisabeths helle Stimme durch die Kirche schallte: »Männer und Frauen von Eisenach, ehrwürdige Patres vom Orden des heiligen Franziskus und du, geliebte himmlische Dreieinigkeit, Vater, Sohn und Heiliger Geist, ihr Heerscharen der Engel und alle Heiligen, hört, was ich zu

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