Die Tore des Himmels
Löwenzahn blühte, Krokusse und Gänseblümchen, dazwischen ein paar Schlüsselblumen. Wasser plätscherte, Hummeln und Bienen brummten von Blüte zu Blüte. Damen tanzten am Bachufer den Reigen, sie schienen zu schweben, ihre bunten Kleider bauschten sich im Frühlingswind. Helles Lachen klang zu ihm herüber. Er spürte die Kraft der Sonne auf seiner nackten Haut. Merkwürdigerweise war er nackt. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hierhergekommen war. Zu Pferd? Zu Fuß? Und wo war er überhaupt? Er kannte diese Wiese nicht, sie lag unter keiner seiner Burgen. Verwundert lief er weiter, seine Füße wurden nass vom Tau, der noch im hohen Gras nistete. Da löste sich eine der Frauen aus dem Reigen und lief geradewegs auf ihn zu. Sie trug ein leuchtendblaues Kleid aus glänzender Seide, auf ihrem Haar glitzerte ein herrliches Diadem, nein, eine Krone aus Gold, besetzt mit Perlen und Edelsteinen. Die Frau kam ihm bekannt vor, er hatte sie schon einmal gesehen. Sie war so schön. Verzweifelt zermarterte er sich den Kopf. Wer war sie? Immer näher kam sie, und seltsam – mit jedem Schritt, den sie tat, veränderte sie sich. Ihre Krone schien undeutlicher zu werden, das Gold schien zu zerfließen, sich aufzulösen. Das kunstvoll aufgesteckte Haar fiel herab, wurde wirr und lockig, zerzaust und stumpf. Und das Kleid – die Farbe verblasste, verschwamm, wurde schmutziggrau und fleckig. Am Ende war da nur noch eine einfache Kotte, in der Taille zusammengerafft von einem dünnen Strick. Die herrliche Weiblichkeit, die sie anfangs ausgestrahlt hatte, verlor sich, von üppigen Brüsten, Hüften und Schenkeln blieben nichts als Haut und Knochen. Das Gesicht, anfangs noch fröhlich vom Tanz gerötet, schrumpfte, fiel ein, wurde blass und fahl, die Augen verschwanden tief in dunklen Höhlen. Es war gespenstisch. Plötzlich sah er nichts mehr außer dieser bleichen Frauengestalt; die Wiese war verschwunden, der Himmel fort, kein Wind, kein Laut. Unsäglicher Schrecken erfasste ihn. Er wich zurück, aber die hagere Frau winkte ihn mit einer langsamen, lockenden Geste zu sich. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, aber alles zog ihn hin, er konnte sich nicht wehren, bis er schließlich ganz nah vor ihr stand. Riesengroß und unheimlich erschien sie ihm nun; ihre Füße berührten merkwürdigerweise nicht den Boden, die Luft schien sie zu tragen. »Heinrich!«, rief die Gestalt mit heller, hallender Stimme. »Heinrich!« Und ein drittes Mal: »Heinrich!« Der düstere, traurige Blick des Geistes ging ihm durch und durch. In ihm stand stummer Vorwurf. »Erkennst du mich denn nicht?«
Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. »Elisabeth!«, entfuhr es ihm. »Du?«
»Ja, ich bin es«, antwortete die Gestalt. »Die du stets gehasst und verabscheut hast.«
Heinrich überlief es eisigkalt. Er wollte weglaufen, nur fort von hier, aber er konnte sich nicht bewegen, seine Füße waren wie festgewachsen. Und Elisabeth sprach weiter. »Du hast mir den Gatten genommen!«
Wie? Was? Woher konnte sie das wissen?
»Umbringen hast du ihn lassen!« In der Stimme des Geistes schwangen Zorn und unendlicher Jammer. »Und nun willst du seinen einzigen Sohn morden!«
Er fing an zu stottern. »Aber nein, das … das …«
Die Gestalt bewegte sich noch ein Stückchen weiter auf ihn zu. Aus dem linken Auge löste sich eine Träne und rollte langsam ihre Wange herab: »Heinrich, um der Liebe Gottes willen bitt ich dich: Lass unseren Sohn leben.«
Gerade noch hatte er seiner Furcht vor der überirdischen Erscheinung nachgeben wollen, hatte Elisabeth zugestehen wollen, Hermann zu verschonen – da regte sich in ihm der Widerstand. Ha! Ein Geist, der um etwas bat! Der weinte! Was war das denn für ein jämmerlicher Spuk? Trotzig schüttelte er die Angst ab. »Was willst du von mir, Elisabeth?«, fragte er. »Ich hatte nie die Absicht, dem Jungen etwas anzutun. Ehrlich!«
Der Geist schüttelte betrübt den Kopf. »Sprichst du auch die Wahrheit, Heinrich? Dann schwöre nun, meinen Sohn zu verschonen, jetzt und allezeit.«
Das war zu viel! Er stellte sich breitbeinig hin und lachte frech. »Ei, soll der Landgraf von Thüringen wohl vor Gespenstern Eide ablegen?«
»Du willst nicht?«
»Nein!« Er schüttelte den Kopf.
»Geh in dich, Heinrich, ich bitt dich. Lass ab von Machtgier und Starrsinn. Schwöre!«
Wieder weigerte er sich mit einem heftigen Kopfschütteln.
Da hob die Gestalt langsam, langsam den rechten Arm. Mit spitzem Finger deutete
Weitere Kostenlose Bücher